Schicksalsgeschichten

Die Autorin beschreibt mit leisen Tönen Begegnungen mit Kranken, Todgeweihten, Außenseitern, Unangepassten und von der Gesellschaft Ausgestoßenen. Im ersten Teil sind es Schicksalsgeschichten und -begegnungen vor allem aus ihrer Kindheit und im zweiten solche aus der Arbeit mit ihren meist noch kleinen und oft nicht mehr zu heilenden Patienten. Daraus ist ein bewegendes Buch geworden, das seinen Zauber erst entfaltet, wenn man Zeit hat zum Sinnen und Lauschen und jede Geschichte nachklingen kann. Dann wird man bemerken, wie diese Schicksalsgeschichten ein Licht verbreiten, das von innen her wächst.
„Als ich Kind war ich glaube, ich muss so sieben Jahre alt gewesen sein und das Frühjahr noch jung, brach durch die dicke Wolkendecke die Sonne und malte durch die noch kahlen Bäume hindurch einen warmen, hellen Lichtfleck auf meinen Weg. Ich zog Mantel, Schuhe und Strümpfe aus und stellte mich mitten hinein und fühlte mich so glücklich, dass ich mir wünschte, diesen Augenblick nie zu vergessen.
Meine Mutter rief mich, und da ich in meinem Glück vergaß, mich wieder anzuziehen und barfuß vor ihr erschien, obwohl es noch sehr kalt war, rief mich ihr verständlicher Ärger aus allen Himmeln. Mir dämmerte zum ersten Mal: Man kann alles auch anders sehen. Damals war ich tief beunruhigt. Im Laufe meiner Jahre hat diese Tatsache ihren Schrecken verloren.
Es gehört zu den faszinierendsten Erfahrungen meines Lebens, zu sehen, dass die Wirklichkeit so viele Facetten hat, wie es Augen, Ohren, Nasen und Hände gibt, um sie zu erfassen. Es ist uns vertraut, die Welt durch eine Katastrophenbrille zu sehen. Gerade jetzt scheinen wir allen Anlass dazu zu haben. Als mutig gilt der, der es wagt, Aggression und Zerstörung ins Auge zu fassen.
Ich bin denen unendlich dankbar, die aus Katastrophen auferstanden sind, die das, was ihnen das Leben entgegenbrachte, nicht als falsch, unannehmbar, als Strafe oder Ungerechtigkeit bewerteten, wenn es hart war und als selbstverständlich, wenn es gut war , sondern die es nicht bewerteten, es anpackten als einen nur für sie erdachten Werkstoff, mit dem sie ihr Leben gestalten durften. Jeder und jede von ihnen tat es auf eine ganz einmalige Art. Sie sind mir zu Orientierungen auf meinem Weg geworden und schützen mich vor dem Hochmut, zu wissen, wie die Welt wirklich ist.“ (Elisabeth Wellendorf)