Nichtsdestotrotz wird weiterhin massiv Druck ausgeübt, um auch noch die letzten Zögerlichen von der Impfung zu überzeugen, insbesondere die jüngere Generation. „Für Ungeimpfte könnte es unbequem werden“, titelt die Süddeutsche Zeitung. „Wer nicht geimpft ist, für den wird der Alltag ziemlich mühsam.“ In ihrem Kommentar hält SZ-Wissenschaftsredakteurin Christina Berndt eine Ungleichbehandlung von Geimpften und Ungeimpften für durchaus „legitim“: „Mehr und mehr werde es sich für Geimpfte „so anfühlen, als gäbe es gar keine Pandemie mehr. Das Leben der Ungeimpften hingegen bleibt kompliziert und wird angesichts der wachsenden Inzidenzen noch komplizierter werden. (…) Die Ungleichbehandlung von Geimpften und Nichtgeimpften kommt tatsächlich faktisch einer Impfpflicht gleich, sie lässt jedenfalls immer weniger Raum für ein Nein.“ Das sei trotzdem legitim, „denn nur so lässt sich die Pandemie beenden. (…) Weil Geimpfte das Virus nur sehr selten weitertragen“, werde die vierte Welle „zum allergrößten Teil von den Ungeimpften getrieben. Und nur mithilfe einer stattlichen Impfquote lässt sich verhindern, dass sie zerstörerische Ausmaße annimmt.“ Und offenbar sitzt Berndt immer noch der Mär von der Herdenimmunität auf, wenn sie schreibt: „Eines Tages wird es keine Rolle mehr spielen, ob sich noch Menschen impfen lassen. Dann wird es genug sein. Dann ist der Tag gekommen, an dem alle Maßnahmen fallen können. Auch die Ungeimpften können dann unter dem Schutzschirm, den die Geimpften zusammen aufgebaut haben, wieder ein normales Leben führen. Jeder Ungeimpfte kann sich entscheiden, bis dahin zu warten. Aber er muss es dann eben auch.“

 „Ohne Impfen keine Freiheit“, verkündete Bayerns Ministerpräsident Markus Söder am 14. Juli im Bayerischen Rundfunk. Schon jetzt lassen z. B. Kreuzfahrtschiffe nur Geimpfte zu, Reiseveranstalter und Hotels kündigen an, ab dem späten Herbst keine Ungeimpften mehr aufzunehmen, Malta droht damit, die Grenzen nur noch für vollständig Geimpfte zu öffnen, und gerade erst hat die Bundesregierung alle im Ausland Urlaubenden dazu verdonnert, bei der Einreise entweder eine doppelte Impfung (wobei die zweite zwei Wochen her sein muss) vorzuweisen oder einen negativen Test. Kanzleramtsminister Helge Braun kündigte schon jetzt in der BILD an: „Geimpfte werden mehr Freiheiten haben als Ungeimpfte“ und will generell nur noch voll Geimpften den Zutritt zu Restaurants, Kinos oder Stadien erlauben.  

Inzwischen hat Jens Spahn seine Pläne für den Herbst bekanntgemacht (das Originalpapier zum Download): Die kostenlosen Tests sollen zum 11. oder 18. Oktober beendet werden, der Besuch von Innengastronomie, Hotels, Kosmetik und Fitness, Veranstaltungen in Innenräumen oder Großveranstaltungen (innen und außen) nur für die 3G (Geimpfte, Genesene, Getestete) möglich sein, bei bestimmten Grenzwerten sollen Ungeimpfte auch bei negativem Test keinen Zutritt mehr haben.. Die Maskenpflicht in Einzelhandel und im öffentlichen Nah- und Fernverkehr wird weiterhin aufrechterhalten.

„Die Ankündigung, in Zukunft Ungeimpfte vom Gastronomiebesuch ausschließen zu wollen, ist der dreisteste und verheerendste Wortbruch dieser Bundesregierung, die wiederholt Stein und Bein geschworen hat, es werde keine Impfpflicht in Deutschland geben“, schimpft Wolfgang Kubicki (FDP) in der BILD: „Man muss Jens Spahn wegwählen.“ Spahn tue alles, „um die Auseinandersetzung über die Corona-Maßnahmen zur Glaubensfrage zu machen.“ Das Ganze sei „nicht infektionsrechtlich begründet, sondern erziehungstechnisch auf den Weg gebracht“ worden. Eine recht hitzige Diskussion dazu findet sich bei Markus Lanz vom 4. August. 

„Jens Spahn geht mit seinen Plänen für Ungeimpfte zu weit“, meint auch Christian Grimm in der Augsburger Allgemeinen. „Dass zukünftig negativ Getesteten der Besuch im Wirtshaus verwehrt werden soll, geht zu weit. Schließlich verlässt sich der Staat auch in den Schulen auf die Aussagekraft der Tests. Jens Spahn hat mit seinem Konzept den schmalen Grat zwischen Freiheit und Sicherheit verlassen.“

Um die Impfquote zu erhöhen, gibt es inzwischen diverse Lockangebote. Edeka Nord z. B. spendiert seinen Mitarbeiter:innen einen 50-Gutschein, Fans des Chemnitzer FC erhielten Freikarten für das Spiel ihres Vereins, wenn sie sich zuvor im Bus vor dem Stadion impfen ließen, wie die WELT berichtet. Außerdem gibt es einen 10-Euro-Gutschein für das Shopping-Center, wenn man zuvor im Impfbus einkehrt. Das Thüringer Städtchen Sonneberg gibt Impfwilligen immer freitags eine Bratwurst aus, was die Impfbereitschaft sofort drastisch ansteigen ließ. Zusätzlich hat Thüringen unter dem Motto „Sommer, Sonne, Impftermin“ eine 400.000 Euro teure Kampagne aufgelegt, um die Leute für das Impfen zu gewinnen. Die Stadt Attendorn in NRW lud Impfwillige zum Cocktail samt Musik mit einem Top-DJ ein, was natürlich vor allem die Jugend ansprechen sollte. Auch Wuppertal will vor Clubs impfen, Berlin plant zusammen mit der Club-Szene eine „lange Nacht des Impfens“, die damit verbundenen kostenlosen Getränke sind dann allerdings alkoholfrei. Bei IKEA in Berlin-Lichtenberg kann man sich via Drive-In oder Walk-in vor den Köttbullar noch fix die Spritze geben lassen, Kulmbach wartet mit einem 20-Euro-Essensgutschein auf.

Wer sich (noch) nicht impfen lassen will, steht allerdings schnell am Pranger. Kaum jemand weiß das besser als der bayerische Wirtschaftsminister und Spitzenkandidat der Freien Wähler für die Bundestagswahl, Hubert Aiwanger. Er hatte in der FAZ vor einer „Apartheidsdiskussion beim Impfen“ gewarnt, das Impfen „muss eine private Entscheidung des Einzelnen bleiben. (…) Die Frage ist, können wir Corona so managen, dass nicht die einzige Antwort darauf ist, jeden jedes halbe Jahr zu impfen.“ Druck auf den Einzelnen sei „nur dann gerechtfertigt, wenn Ungeimpfte in nachweisbarer und nicht zumutbarer Weise Geimpfte gefährden“. In einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen begründete Aiwanger seine Haltung: „Wir hatten schon Impfstoffe, die für bestimmte Altersgruppen wieder zurückgezogen worden sind, nachdem sie vorher beworben wurden. Wenn wir kein Nachdenken mehr zulassen, verlieren wir Vertrauen. (…) Ich bin einer von ungefähr 30 Prozent. (…) Das letzte Wort über seinen Körper muss der einzelne Bürger haben. Wenn wir diese rote Linie bei den Impfungen überschreiten, dann fallen mir, ohne groß nachzudenken, zehn weitere Fälle ein, wo es im Gefährlichen endet, wenn der Staat das letzte Wort über den Körper des Einzelnen hat. (…) Wenn der soziale Druck auf den Einzelnen zu groß wird, dann führt das zur Spaltung der Gesellschaft. Das will ich verhindern. Sozialer Druck kann grausam sein. (…) Wir müssen schon aufpassen, dass wir Corona nicht zu einer Psycho-Nummer entwickeln. (…) Wenn wir weitere Lockdowns verhängen müssen, dann bitte wissenschaftlich fundierter als zuletzt. Der Staat muss genau begründen können, warum er eine Branche dichtmacht. Die Branche muss nicht umgekehrt beweisen, dass sie ‚clean‘ ist.“ In einem weiteren Interview mit dem Deutschlandfunk (der das gleich entsprechend polte: „Impfen lassen nach Gutdünken?“) sagte Aiwanger auch noch: „Ich gehe davon aus, dass neue Impfstoffe, vielleicht sogar bessere, kommen und die jetzigen in einiger Zeit noch anders bewertet werden.“ Er habe in seinem persönlichen Umfeld immer wieder erlebt, dass die Impfungen doch erhebliche Nebenwirkungen hatten, „da bleibt einem schon das eine oder andere Mal die Spucke weg, und darüber sollte man reden, um ein Gesamtbild zu kriegen.“ Die Verantwortung für ihn als Politiker liege vielleicht darin, „nicht alles zu tun, was die Mehrheit fordert und das politische Establishment von mir erwartet, sondern die Verantwortung liegt vielleicht auch darin, in einer solch sensiblen Debatte auch mal die Stimme derer zu sein, die den Weg noch nicht mitgehen, und nicht zu sagen, die Mehrheit ist der Meinung, jetzt wird die Minderheit in eine Richtung frisiert, in die sie nicht gehen will. (…) An der Stelle bin ich vielleicht Vorbild für die Verteidigung selbstverständlicher Bürgerrechte.“

Das trug Aiwanger natürlich prompt eine scharfe Rüge seines Ministerpräsidenten ein, der seine Aussagen „verstörend“ fand, die eines stellverstretenden Ministerpräsidenten unangemessen seien, wie die WELT berichtet. Und ebenso prompt spießten die großen Medien Aiwangers Aussagen auf und kommentierten sie mehr oder weniger süffisant: „Die Haltung des bayerischen Ministerpräsidenten ist kontraproduktiv“ schreibt die WELT, „Aiwanger will sich immer noch nicht impfen lassen“, moniert der Spiegel, „Impf und Schande: Szenen einer Ehe“, lästert die SZ und setzt mit einer Befragung der Freien Wähler-Parteifreunde und -Basis noch einen drauf: „Kontraproduktiv, ärgerlich, fatal, unglücklich“. Damit nicht genug: „Aiwanger will sich immer noch nicht impfen lassen“, empört sich der SPIEGEL, und bedient sich genüsslich eines Anrufs bei Söder, der prompt liefert: „Unabhängig davon, dass es in der Sache falsch ist, verstört der Sound der Argumente. (…) Wir stehen auf der höchsten Stufe menschlicher Zivilisation und sind beim Impfen zum Teil mit Argumenten aus dem Mittelalter konfrontiert. Wer meint, in einem solchen Becken fischen zu könen, der riskiert, darin zu ertrinken.“  die WELT zitiert den CSU-Generalsekretär Markus Blume: „Er (Aiwanger, d. Red.) nähert sich in gefährlicher Weise den Kreisen von AfD und Querdenkern an – und muss aufpassen, dass er nicht selbst zum Querdenker wird.“ Söder wiederum meinte beim ZDF-Sommerinterview auf großväterlich-überhebliche Art, er mache sich „a bissl“ Sorge um Aiwanger, wie t-online berichtet: „Meine Sorge ist, dass er sich in eine Ecke manövriert, aus der er selber nicht mehr herauskommt.“ Jo mei, der Bub … Das will Aiwanger allerdings nicht auf sich sitzen lassen und kontert: „Es ist eine Unverschämtheit, mich als ‚Querdenker‘ abstempeln zu wollen, weil ich gegen die Impfpflicht bin und mehr Sensibilität einfordere beim Thema Impfen von unter 12-Jährigen, was auch die Stiko bisher nicht empfiehlt.“

„Klappe halten, impfen lassen“, empfahl Armin Falk von der Universität Bonn, einer der „weltweit führenden Verhaltensökonomen“ und Mitglied der Leopoldina, Hubert Aiwanger daraufhin in einem Interview mit der FAZ: „Im Fall des Impfens bin ich für eine Impfverpflichtung. (…) Sich nicht impfen zu lassen, hat nichts mit Rationalität zu tun, sondern einfach nur mit Eigennutz. Die Allgemeinheit muss hier zahlen für die Trägheit und Dummheit der Impfgegner. (…) Es gibt ja schon Impfzwänge, zum Beispiel bei Säuglingen. Weil die Gesellschaft aus jahrhundertelanger Erfahrung verstanden hat, dass es für sie selbst am besten ist, wenn der Staat hier Zwang ausübt. (…) Sogenannte Opt-out-Modelle, bei denen jeder geimpft wird, falls er nicht widerspricht, finde ich absolut sinnvoll.“ Er verstehe nicht, dass der Bundesgesundheitsminister das nicht – wie bei der Organspende – auch für das Impfen erwogen habe. Auch solle der Impfstatus bei einer Triage berücksichtigt werden, wenn Beatmungsgeräte knapp werden.

„Falk hat mit diesen verbalen Entgleisungen nicht nur eine Fülle an Unwissen, sondern auch ein zutiefst bedenkliches Menschenbild offenbart“, meint die Rechtsanwältin Jessica Hamed auf ihrem Linked-in-Profil. Das Interview sei für sie „definitiv einer der traurigsten und erschütterndsten Tiefpunkte in der Krise.“

Aber Falk steht nicht allein: Auch Wolfram Henn, Humangenetiker und Mitglied des Deutschen Ethikrates, plädiert in einem Gastbeitrag für die Augsburger Allgemeine für eine Impfpflicht: „Für Personen in besonderer beruflicher Verantwortung endet das Recht auf individuelle Unvernunft am Anspruch der ihnen anvertrauten Menschen auf Schutz.“ Das gelte für Lehrer:innen ebenso wie für das Personal in Medizin und Pflege oder Taxifahrer:innen. Zwar sind die meisten dort schon geimpft, „aber eine kleine Minderheit kann eine tödliche Gefahr für alte und vorerkrankte Menschen sogar trotz deren Impfung darstellen.“ Jede:r müsse auf Nachfrage seinen Impfstatus offenlegen: „Es darf nicht sein, dass eine hochgefährdete Patientin nicht erfährt, ob die zu ihr ins Haus kommende Pflegeperson ihre Impf-Verantwortung wahrgenommen hat oder als ambulanter Superspreader unterwegs ist. Patientenschutz muss hier vor Datenschutz gehen, mit Stigmatisierung hat das nichts zu tun.“ 

Dass die Politik dennoch weiterhin standhaft behauptet, es werde keine Impfpflicht geben, hängt auch damit zusammen, dass sie einfach Bedingungen schafft, die kaum noch einen anderen Ausweg zulassen. Dazu gehört z. B., ab Herbst die Schnell- und PCR-Tests kostenpflichtig zu machen, wie es die baden-württembergische Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) im Südwestrundfunk forderte und Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther schon zum 20. September eingeführt sehen möchte, wie die WELT berichtet. Was natürlich schon von den Kosten her ein höchst effektives Druckmittel darstellt: Ein Schnelltest schlägt mit mindestens 12-15 Euro zu Buche, ein PCR-Test mit mindestens 35 Euro, meist wird das Doppelte angesetzt. Da dürfte der Etat eines jungen Menschen mit geringem Einkommen, von Schüler:innen, Auszubildenden oder Studierenden rasch erschöpft sein. Die SZ findet das gut, denn „Druck tut not, um Impfmuffel zu überzeugen“.