„Mein Körper, meine Entscheidung!“ meint Pflege-Bloggerin Sabrina und stellt sich damit entschieden gegen jede Impfpflicht: „Wir aus der Pflege können es gut beurteilen, wie Covid-Infektionen verlaufen, denn wir sehen sowohl leichte, wie auch deutlich seltenere schwere Verläufe. (…) Ich halte es für menschenunwürdig und menschenverachtend, als völlig gesunder Mensch so behandelt zu werden, als wäre ich ‚Störer‘ und ‚Gefährder‘ und als hätte ich eine gefährliche, ansteckende Krankheit. (…) Ich lehne jede Fremdbestimmung entschieden ab.“

„Wer eine Impfpflicht zulässt, missachtet die Freiheit“, meint Ulf Poschardt, Chefredakteur der WELT in einer Replik auf die Gegenposition von Olaf Gersemann, Ressortleiter Wirtschaft bei derselben Zeitung, der eine Impfpflicht befürwortet: „Den freien Willen zu verteidigen, heißt, für die Demokratie kämpfen“, schreibt Poschardt. „Die Corona-Maßnahmen haben ein Feuerwerk antifreiheitlicher Reflexe entfacht und die Liebe zum Verbot, zu Regulierung und Kontrolle in einem Ausmaß verschärft, das auch liberale Skeptiker und Pessimisten erschüttert. Einer Mehrheit der Deutschen ist Freiheit vollkommen egal, einige verachten sie ganz offen.“ Ein „derart gravierender Eingriff in die Freiheitsrechte des Einzelnen“ könne „durch nichts gerechtfertigt werden. (…) Der mündige Bürger ist ein Ideal der Aufklärung, und dieses Ideal verpflichtet die liberalen Demokratien, die Übergriffigkeiten des Staates auf ein Mindestmaß zurückzuführen. Davon kann in der Bundesrepublik schon lange nicht mehr die Rede sein. Aber Menschen zur Impfung zu zwingen, würde die sowieso gereizte Stimmung in der Gesellschaft ins Vorbürgerkriegliche kippen lassen. Alleine darüber nachzudenken ist gespenstisch. (…) Auch der latent erpresserische Sound, die Kinder zu Geiseln unserer Impfmüdigkeit zu machen, hat wenig mit den Standards aufgeklärter Debatten zu tun. Schulschließungen, Wechselunterricht und Homeschooling müssen ausgeschlossen werden. (…) Die einzige Pflicht, über die nicht diskutiert werden sollte, ist die Schulpflicht – und im Zweifel auch die Verpflichtung des Staates, diese mit sozialer und nicht digitaler Interaktion auszuleben.“

„Mehr Mut zur Normalität“ fordert Benjamin Knaack in einem Kommentar im SPIEGEL: „Irgendwann kommt der Punkt, an dem man abwägen muss, ob die Gefahr all das rechtfertigt: die Grundrechtseinschränkungen, die Bildungsmisere, das stille Leid der Kinder, die Verwüstung ganzer Wirtschaftszweige, die Radikalisierung eines Teils der Bevölkerung angesichts der mehr oder weniger offenen Androhung einer zumindest indirekten Impfpflicht. Man sollte sich fragen, ob nicht zu viel kaputtgeht in dem feingesponnenen Netz unserer Gesellschaft. Ob der Wille der meisten Bürger zur Befolgung der Regeln nicht überstrapaziert wird, wenn zu lange zu viel verlangt wird. Statt in Richtung Normalität zu steuern, intensiviert sich der Trend, immer neue Sündenböcke durchs Land zu treiben. (…) Nun also hat man die nächsten Sündenböcke identifiziert: Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen. (…) Will man den Zusammenhalt in der Gesellschaft nicht weiter verwüsten, sollte die Regierung Anreize schaffen und überzeugen, um die Impfquote nach oben zu treiben, anstatt einem Teil der Bevölkerung zu drohen. Vor allem aber sollte sie sich fragen, ob das Risiko, mehr Schritte in Richtung der alten Normalität zu gehen, wirklich größer ist, als sich von ihr zu entfernen.“

„Impfpflicht ist übergriffig“, konstatiert die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, die ab Herbst an der Universität Bonn lehren wird und vorher an der Donau-Universität Krems bei Wien tätig war, in einem Interview mit dem Deutschlandfunk: „Bisher war Impfen Privatsache – und das sollte es auch bleiben.“ Die Diskriminierung durch eine Impfpflicht oder auch Zwang und Aufforderung zum Impfen seien einer Rechtsakte des Europarats zufolge verwerflich, weil sie mit dem Recht auf körperliche Integrität brechen. Jede:r, der will, soll sich impfen lassen; jede:r, der nicht will, dürfe davon keine Nachteile haben. Es gebe in Frankreich bereits die Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen, und in Deutschland herrsche ein „impliziter Konformitätsdruck“. Die Bevölkerung werde geteilt in diejenigen, die Rechte bekommen, und die anderen, die sie nicht bekommen: „Da kann ich als Politikwissenschaftlerin nur sagen: Das ist die Erosion der Demokratie. In einer Demokratie haben alle Rechte, und Rechte sind unkonditionierbar (mit keinen Bedingungen verbunden, d. Red.).“ Man müsse nicht etwas beweisen, z. B. dass man gesund sei, um Rechte zu haben, sondern „alle haben in einer Demokratie Rechte“. Allein die Tatsache, dass das jetzt so geframed werde, zeige, dass uns etwas entglitten ist. Ihr fehle „die Unschuldsvermutung, dass ein gesunder Mensch erstmal nicht ein potentieller Gefährder“ sei. Gesunde Menschen seien einfach gesund und hätten Rechte, wir würden aber nur noch diskutieren, wer „GGG“ ist – geimpft, genesen, getestet: „Das allein ist schon eine Verschiebung der Diskussion.“ Die ‚Guten‘ seien die Geimpften, und die ‚nicht Guten‘ die nicht Geimpften, die dann verantwortlich gemacht werden für die vierte Welle. Das sei eine eindeutige Ausgrenzung von nicht geimpften Personen. „In einer Demokratie muss aber jeder die persönliche Risikoabschätzung haben, ob er sich impfen lassen will oder nicht. (…) Ich bin nicht gegen die Impfung, ich bin gegen Impfzwang und gegen Impfpässe, weil ich eine Spaltung der Bevölkerung vermeiden möchte. Jeder, der will, soll sich impfen lassen, und jeder der nicht will, soll sich nicht impfen lassen können, ohne Diskriminierungen befürchten zu müssen.“

Ihre differenzierte Position kann Ulrike Guérot noch sehr viel besser in einem höchst hörenswerten Gespräch mit Radio multicult.fm entwickeln, das auch den früheren Berliner Ärztekammer-Präsidenten und heutigen Vorstand des Berufsverbands der Präventologen, Ellis Huber, mit einbezieht. Guérot und Huber haben zusammen mit 14 weiteren Staatsbürger:innen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und wissenschaftlichen Disziplinen das Positionspapier „Covid-19 ins Verhältnis setzen. Alternativen zu Lockdown und Laufenlassen“ (Hashtag #coronaaussoehnung) geschrieben, über das die Berliner Zeitung berichtet. Darin gehe es, so Ulrike Guérot, um „eine Bestandsaufnahme der bisherigen Corona-Politik mit dem Ziel, den Blick in die Zukunft zu richten“: „Wir müssen verhindern, dass wir im Herbst wieder in eine Situation schlittern, in der hektisch und ohne Differenzierung Maßnahmen beschlossen werden, die zu einem gesellschaftlichen Ausnahmezustand führen. (…) Wenn wir Andersdenkenden grundsätzlich unterstellen, dass sie von niederen Motiven geleitet seien, dann bewegen wir uns auf eine para-autoritäre Gesellschaft zu.“

Das Papier will einen Beitrag dazu leisten, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden und eine Kurskorrektur anstoßen. „Freundschaften, Familien, Organisationen wurden in der Corona-Diskussion entzweit, Erfahrungen und Einschätzungen stehen einander unversöhnlich gegenüber“, heißt es im Vorwort des Papiers. „Die gesamte Gesellschaft scheint gespalten. Das Virus ist daran unserer Meinung aber nicht schuld. Wir glauben vielmehr, dass es der historisch nie dagewesene und einzigartige Umgang mit SARS CoV-2 ist. Wäre die öffentliche Diskussion plural, sachlich und wertschätzend und die Maßnahmen evidenzbasiert und verhältnismäßig, dann würde Covid-19 die Gesellschaft genauso wenig spalten wie bisherige Pandemien. Mit diesem Text wollen wir einen Beitrag dazu leisten, die Verhältnisse herzustellen, um die aktuelle gesellschaftliche Spaltung zu überwinden und einen Modus Vivendi mit dem Coronavirus zu finden.“

Das Fazit aus den über 60 Seiten Analysen und Überlegungen lautet:

  • Es wird zu viel Aufmerksamkeit auf Covid-19 gelenkt und zu viel Angst davor geschürt.
  • Dadurch werden andere, ähnlich große Gesundheitsgefahren nicht annähernd im Verhältnis wahrgenommen.
  • Dasselbe gilt für die Gefahren, die von den Maßnahmen ausgehen.
  • Die Krise und die Maßnahmen haben überproportional negative Auswirkungen auf Menschen, die bereits vor der Krise benachteiligt und marginalisiert waren: Frauen, Migrant*innen, Menschen mit geringem Einkommen, Arbeitende im informellen Sektor im globalen Süden; gesellschaftliche Ungleichheit wird dadurch auf vielen Ebenen verstärkt.
  • Über Vermeidung von Pandemien und die Abschwächung ihrer Wirkung wird im Verhältnis zu Symptombehandlungen kaum gesprochen.
  • Die Rolle des menschlichen Immunsystems kommt ebenso zu kurz wie soziale, ökologische, technologische und ökonomische Faktoren.
  • Menschen, die Zwangsmaßnahmen kritisch gegenüberstehen und auf deren Folgen hinweisen; aber auch Menschen, die eigenverantwortlich solidarisch handeln wollen; Menschen, die Begegnung, Beziehung, Berührung und Nähe wünschen, werden häufig als „unverantwortlich“ oder „unsolidarisch“ bezeichnet, pauschal etikettiert und diffamiert und müssen um ihre soziale Zugehörigkeit und berufliche Existenz fürchten.

Die 16 Autor:innen empfehlen folgende Maßnahmen als Alternativen zu „Lockdown“ und „Laufenlassen“ vor:

  • Ganzheitliche Aufklärung und echte Komplexität.
  • Vertrauen in und Unterstützung der Bürger:innen.
  • Maßnahmen auf Eigenverantwortung und Gesundheitskompetenz gründen.
  • Vielfalt in der Krisenbewältigung fördern.
  • Gezielter Schutz von Risikopersonen und ihren Helfer:innen.
  • Größtmögliche Freiheit für die Kinder.
  • Immunsystem stärken.
  • Leben mit dem Virus.
  • Leben mit dem Tod.
  • Vorbeugen und Verringern anderer Gefahren.

Nach dem Einarbeiten der durch die Veröffentlichung ausgelösten öffentlichen Diskussion soll sich dieses Papier „zu einem Manifest konkretisieren“. Weiteren Aufschluss über die Initiative „Corona-Aussöhnung“ gibt auch ein Interview des MDR mit Christian Felber, Publizist und Sozialwissenschaftler, der ebenfalls zum Autor:innenkreis gehört.