Am 2. August haben die Gesundheitsminister:innen von Bund und Ländern einstimmig ein Impf-Angebot für alle Kinder und Jugendlichen ab zwölf Jahren – das sind insgesamt etwa 4,5 Millionen – beschlossen. Zugelassen dafür sind die mRNA-Impfstoffe von BioNTech/Pfizer und Moderna. Stand 1. August 2021 sind bundesweit bereits ein Fünftel der 12- bis 17-Jährigen geimpft worden, jede:r Zehnte bereits zweimal. In dem Beschluss, den die BILD-Zeitung zum Download eingestellt hat, heißt es: „Es werden nunmehr alle Länder Impfungen für 12- bis 17-Jährige auch in Impfzentren oder mit anderen niedrigschwelligen Angeboten anbieten. Dabei ist eine entsprechende ärztliche Aufklärung erforderlich sowie eine ggf. notwendige Zustimmung der Sorgeberechtigten einzuholen.“

Zu beachten ist hier das Kürzel „ggf.“ – gegebenenfalls. Zwingend wird die Einwilligung der Eltern also nicht vorgeschrieben. Diese Möglichkeit wird bereits in Anschreiben an Eltern in Schleswig-Holstein, wo Kinder ab 12 Jahren an den Schulen geimpft werden sollen, direkt kommuniziert: „Das mobile Impfteam kann ein Kind unter 14 Jahren impfen, wenn die Erziehungsberechtigten in die Impfung eingewilligt haben. Es reicht dabei aus, wenn ein Elternteil den Einwilligungsbogen unterschrieben hat. Bei Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren ist es ausreichend, wenn diese die Dokumente selber ausgefüllt und unterschrieben haben; Eltern können in Absprache mit ihrem Kind die Dokumente auch weiterhin unterschreiben“ (das Schreiben liegt der Newsletter-Redaktion vor). Ob dieses Vorgehen rechtlich wirklich haltbar ist, werden vermutlich die Gerichte entscheiden.

Die Politik setzt sich damit über den Rat der STIKO hinweg, die für diese Altersgruppe keine generelle Impfempfehlung aussprechen wollte, weil die Datenlage dafür zu schwach ist. „Ein schwarzer Tag für die Politik und ebenso für die Wissenschaft“, kommentiert Kinder- und Jugendarzt Steffen Rabe, Sprecher des Vorstands der „Ärzte für individuelle Impfentscheidung e. V.": „Eine Gruppe von Bankkaufleuten, Volkswirten, Politologen, Juristen und anderen, der Medizin Wesens- und Sachfremden entscheidet über ein unter Experten international hoch umstrittenes Thema: die Covid-Impfung für Kinder und Jugendliche.“ Sie setzen sich damit über den Rat der eigenen Fachleute hinweg, weil diese sich weigern, das gewünschte politische Narrativ zu bedienen. „Wo bleibt das Lamento Christian Drostens, dass die Politik der Wissenschaft in so schwierigen Zeiten die Gefolgschaft aufgekündigt hat? (…) Zukünftig entscheiden nicht mehr Wissenschaft, Evidenz und Ethik über de facto jetzt schon erzwungene Schutzimpfungen, sondern politisches Kalkül, Machtstreben und Wahlkampftaktik. Das Vertrauen in Impfungen und Impfempfehlungen hat irreversiblen Schaden genommen.“

Schon seit Wochen steht diese Haltung unter Beschuss: „Corona-Impfung ab 12 Jahren: Söder erhöht Druck auf STIKO“, meldet der Bayerische Rundfunk am 14. Juli. Darin spricht Söder der STIKO indirekt die wissenschaftliche Qualifikation ab: „Wir schätzen die STIKO, aber das ist eine ehrenamtliche Organisation. Die EMA – die Europäische Zulassungsbehörde – das sind die Profis. Die haben entscheiden: Ja, der Impfstoff ist zugelassen. (…) Wir wären, wenn wir das Impftempo von Juni fortsetzen würden, in 90 Tagen durch, alle über 12 zu impfen in Bayern. Dann hätten wir die Herdenimmunität erreicht, und dann könnten wir in den Herbst bzw. Winter doch relativ unbeschwert gehen. Fakt ist, dass das nicht stattfindet.“ Er wolle der STIKO keine Vorwürfe machen, sondern nur Feststellungen treffen.

 „Wir müssen alles dafür tun, um die Schulen offen zu lassen“, betonte die Brandenburgische Bildungsministerin Britta Ernst (SPD, Frau von Olaf Scholz) in einem Interview mit dem rbb-Inforadio, und appellierte darin an die STIKO, endlich eine allgemeine Impfempfehlung für 12- bis 17-Jährige auszusprechen. Auch Bettina Martin (SPD), die Bildungsministerin von Mecklenburg-Vorpommern, hofft auf eine Impfempfehlung für Jugendliche ab 12 Jahren, wie sie in einer Presseerklärung mitteilen lässt. 

 „Amtsärzte plädieren für Coronaimpfung von Kindern ab zwölf Jahren“, berichtet das Deutsche Ärzteblatt am 28. Juli und „Amtsärzte plädieren für Reform der STIKO“, meldet die Süddeutsche Zeitung am 31. Juli: „Angesichts des politischen Drucks auf die STIKO regt der Verband der Amtsärzte an, die Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Einrichtung neu zu organisieren.“ Am 30. Juli hatte die Sächsische Impfkommission SIKO generelle Coronaimpfungen für Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren empfohlen und setzte sich damit gegen die STIKO ab, wie das Deutsche Ärzteblatt schreibt (interessant dazu der Kommentar von Kinder- und Jugendarzt Steffen Rabe). Am gleichen Tag drängt Bundesratspräsident Wolfgang Schäuble die STIKO zu einer entsprechenden generellen Empfehlung für alle Kinder, wie dpa und Ärzteblatt melden. Er wünsche sich als Großvater, dass seine Enkel möglichst bald geimpft werden können, weil „die Coronarisiken auch für Kinder um ein Vielfaches höher“ seien als die einer Impfung. „Jeder, der geschützt werden kann, muss geschützt werden“, zitiert ZEIT-Online eine Hamburger Ärztin: „Viele Hausärzte sträuben sich, Kinder gegen Corona zu impfen. Völlig unverständlich, findet eine Hamburger Ärztin. Vor Anfragen kann sie sich kaum retten.“ Der Verband Bildung und Erziehung warnt in der WELT vor einer „Durchseuchung“ der Kinder und Jugendlichen: „Die Politik darf nicht außer Acht lassen, dass auch Kinder schwere Verläufe und ‚Long Covid‘ bekommen können. Den Unterricht nach den Ferien fortzusetzen, als wäre nichts, ist unterlassene Hilfeleistung.“ Priorität eins müsse das Erreichen von Herdenimmunität haben: „Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, dass diejenigen, die können, sich impfen lassen, um die zu schützen, die sich noch nicht impfen lassen dürfen.“ Und Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, warnt: „Wer jetzt verspricht, dass es im nächsten Jahr auf jeden Fall vollständigen Präsenzunterricht geben wird, begibt sich auf dünnes Eis. Niemand kann ausschließen, dass wir wegen der Delta-Variante und mangelnden Impfquoten eine enorme vierte Welle bekommen, in der dann auch wieder Wechselunterricht nötig wird.“

In Frankreich müssen ungeimpfte Schüler:innen in der Mittel- und Oberstufe zu Hause bleiben, wenn es einen Corona-Fall in der Klasse geben sollte. Die geimpften dürfen weiterhin zum Unterricht kommen, wie die FAZ berichtet. Diese neuen Regeln sollen „ein starker Anreiz zu Impfungen“ sein, wie Bildungsminister Jean-Michel Blanquer sagt. In Frankreich ist etwa ein Drittel der 12- bis 17-Jährigen erstgeimpft, jede:r Zehnte vollständig. Nur geimpfte Schüler:innen dürfen an Klassenausflügen in Museen, ins Kino oder Theater teilnehmen. „Die Organisation für ungeimpfte Schüler sei zu kompliziert, deshalb blieben diese von den extraschulischen Akvitäten vorerst ausgeschlossen“, schreibt die FAZ. 16- und 17-Jährige dürfen sich auch ohne das Einverständnis der Eltern impfen lassen.

Ein deutsches Ärztenetzwerk impft sogar schon heimlich Kinder unter zwölf Jahren, wie Tagesspiegel und Focus berichten. Für diese Altersgruppe sind die Impfstoffe jedoch gar nicht zugelassen. Trotzdem reisen Eltern aus ganz Deutschland in die Praxis eines Arztes in Brandenburg. „Kinder aus Sorge um ihre Sicherheit diesem Virus einfach auszusetzen, das sind für mich die falschen Prioritäten“, begründet der Arzt sein Handeln. Die STIKO könne „nur normales Leben, Pandemie kann sie nicht.“

Und pünktlich zur Konferenz der Gesundheitsminister von Bund und Ländern legte auch SPD-Politiker Karl Lauterbach in einem Interview mit dem Deutschlandfunk noch einmal nach (und wurde damit in mehreren großen Medien zitiert): Die ablehnende Haltung der STIKO sei „nicht länger nachvollziehbar“. Sie befinde sich mit ihrer Haltung in einer „Außenseiterposition“. Wichtige Studien hätten ergeben, dass „eine Durchseuchung mit der Delta-Variante viel gefährlicher“ sei als das Impfen von Kindern. Die STIKO habe sich „ein bisschen zu früh festgelegt und verrannt“.

Natürlich verwahrt sich die STIKO gegen derlei Darstellungen, und ihr Vorsitzender, der Virologe Thomas Mertens, blieb standhaft bei seiner Haltung, dass einfach noch nicht genügend Daten vorliegen. „Wenn man ehrlich ist, gibt es noch sehr wenig Studien, es handelt sich ja jetzt um Anwendungsbeobachtungen“, sagte Mertens in einem Interview mit NDRinfo. „Man weiß zwar inzwischen relativ genau, wie häufig eine Myokarditis (Herzmuskelentzündung, d. Red.) bei Jugendlichen auftritt, was wir aber bislang immer noch nur sehr unscharf wissen, ist, welche klinischen Konsequenzen das haben kann.“ Es werde zwar angegeben, dass die Verläufe meistens gutartig sind, aber man wisse nichts über die wirklichen gesundheitlichen Folgen. Daran hätte auch die erste Veröffentlichung dazu aus den USA, die am 9. Juli erschienen ist, nichts geändert. Dass in den USA schon so viele Jugendliche geimpft seien, sei Folge höherer Anteile an Mangelernährung, Übergewicht und Diabetes in dieser Altersgruppe, sagte Mertens in einem weiteren Interview mit dem Südwestrundfunk. Die Entscheidung der Politik, das Impfangebot jetzt für Kinder über 12 Jahre auszuweiten, basiere nicht auf wissenschaftlicher Evidenz.

Das sieht auch der Hamburger Kinderkardiologe Stefan Renz so: „Offenbar gibt es 1 von 15.600 Fällen Entzündungen am Herzen, vor allem bei Jungen, dieses Risiko müssen wir erst noch genauer analysieren“ sagt er in einem Interview mit der ZEIT. „Es heißt überall, die Herzentzündungen bei den Jungen nach der Impfung seien nur ‚leicht‘. Als Kardiologe muss ich da trotzdem warnen. So wie es keine leichte Narkose gibt, gibt es auch keine leichte Myokarditis. Es besteht immer die Möglichkeit, dass Vernarbungen zurückbleiben – die dann später einen plötzlichen Herztod verursachen. Das Risiko finde ich einfach zu hoch.“

Mertens und die STIKO wissen sich in ihrer Einschätzung einig mit namhaften Wissenschaftler:innen und Ärzt:innen, darunter auch dem Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen: „Impfungen von gesunden Kindern und Jugendlichen sind nach heutiger Studienlage offensichtlich in der Risiko- und Nutzenabwägung noch mit zu vielen Unwägbarkeiten behaftet, um eine generelle Impfempfehlung für alle gesunden Kinder auszusprechen“, sagte Gassen der WELT. „Leider wälzt die Politik ihr Versäumnis, andere Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um etwa Präsenzunterricht nach den Sommerferien wieder zu ermöglichen, jetzt auf Kinder und Jugendliche und deren Eltern ab, indem ein erheblicher Impfdruck aufgebaut wird. Ich sehe es zudem sehr kritisch, dass von politischer Seite großer Druck auf die STIKO ausgeübt wird. Letztlich handelt es sich doch um eine medizinische Frage, wann jemand geimpft werden sollte. Sie solle medizinisch, nicht politisch beantwortet werden.“

Auch Ärzteverbände beklagen die ‚Demontage‘ der STIKO, z. B. der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte sowie der Virchowbund (ein Verband für niedergelassene Ärzt:innen): „Bei aller berechtigten Kritik an der Transparenz der Entscheidungen, der Kommunikation und Geschwindigkeit der STIKO lehnen wir den gestrigen faktischen Eingriff in die wissenschaftliche Unabhängigkeit ab und weisen ihn zurück“, heißt es in einer Meldung auf der Webseite des SPIEGEL (am 3.8.21 um 19:38 Uhr). Die STIKO sei eine „bewährte Institution“ und werde durch dieses Vorgehen geschwächt.

„Wer glaubt, dass es eine gute Idee ist, in dieser Frage (des Impfens von Kindern und Jugendlichen, d. Red.) auf Politiker zu hören, kann sich auch von seinem Gesundheitsminister den Blinddarm operieren lassen“, sagt Jakob Maske, Bundessprecher des Verbands der Kinder- und Jugendärzte in der BILD. Und der Berliner Kinderarzt Martin Karsten ergänzt: „Durch die aktuelle Situation besteht die Gefahr, dass die Kinder anfangen, aufeinander Druck zu machen.“ Dadurch könne ein „regelrechter Impfwettbewerb“ entstehen: „Mit dem Ergebnis, dass die oder der nicht dabei sein oder irgendetwas nicht mitmachen kann, weil er nicht geimpft ist. Wir müssen aufpassen, dass Klassen dadurch nicht geteilt werden.“

Wie dünn die Basis ist, auf der die Politik jetzt jede wissenschaftlich basierte Empfehlung negiert, zeigt ein Artikel in der SZ, aus dem klar hervorgeht: „Covid-19 richtet bei Kindern sehr wenig Schaden an. Bei knapp 190 000 Kindern und Jugendlichen unter 17 Jahren ist eine gesicherte Infektion mit Sars-CoV-2 in Deutschland dokumentiert, allerdings sind viele davon zufällig entdeckt worden, weil die Kinder aus anderen Gründen in einer Klinik waren und dort getestet wurden. Knapp ein Prozent davon, etwa 1800, wurden in einer Klinik behandelt. Davon wiederum wurden 18 Kinder, also ein Prozent, intensivmedizinisch betreut. Zwei Kinder starben, das entspricht 0,001 Prozent. Beide Todesfälle betrafen Kinder, die durch Vorerkrankungen zuvor bereits schwer beeinträchtigt waren.“ Es gibt, wie Thomas Mertens nicht müde wird zu betonen, keine relevante Krankheitslast, die es rechtfertigen würde, die Kinder einem derart unbekannten Impfstoff auszusetzen, dessen langfristige Auswirkungen auf das Immunsystem in keiner Weise erforscht sind. Die unklaren Risiken einer Impfung überwiegen den Nutzen also bei weitem.