Was für ein Hin und Her in Sachen Corona-Maßnahmen haben wir in den vergangenen Wochen hinter uns … Nur kurz wurde die Diskussion darüber verdrängt von den Schrecken der Hochwasser-Katastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Mitten in der Urlaubszeit beschwor RKI-Chef Lothar Wieler das nächste Unheil herauf: „Die vierte Welle hat begonnen“ und präsentierte bei einer Schaltkonferenz zwischen dem Kanzleramt und den Chefs der Staatskanzleien der Länder ein – wie die BILD es bezeichnete – „Panik-Papier“. Darin betonte er ein weiteres Mal die Bedeutung des Inzidenzwerts:

„Inzidenz ist Leitindikator für Infektionsdynamik (hohe Inzidenzen haben zahlreiche Auswirkungen). Generell gilt: Je mehr Fälle auftreten, desto mehr schwere Verläufe (Krankenhauseinweisungen/ITS) und Todesfälle werden – mit etwas Zeitverzug – registriert, desto höhere Belastung des Gesundheitssystems. Bei sehr hohen Inzidenzen steigt auch die Zahl dieser Beeinträchtigungen sowie die Zahl der schweren Verläufe, die im Krankenhaus oder auf der Intensivstation behandelt werden müssen. Dazu kommen immer mehr Kontaktpersonen, die unter Quarantäne gestellt werden und damit am Arbeitsplatz fehlen. Eine steigende 7-Tage-Inzidenz geht dieser Entwicklung voraus, sie ist und bleibt der früheste aller Indikatoren. Die 7-Tage-Inzidenz bleibt daher wichtig, um die Situation in Deutschland zu bewerten und frühzeitig Maßnahmen zur Kontrolle zu initiieren. Hohe Impfquoten allein sind nicht ausreichend, die vierte Welle flach zu halten. Daher sind zusätzliche Basisschutz-Maßnahmen (AHA+A+L) notwendig, um die vierte Welle so zu senken, dass die Patientenzahlen in Krankenhäusern nicht zu hoch werden (Reduktion Kontakte, Reduktion Mobilität).“

In einem Interview mit BILD kommentiert der Virologe und Epidemiologe Klaus Stöhr dazu: „Wenn man das so machen wollte, würde man nie in die Normalität kommen. (…) Wir sehen nicht mehr Einweisungen auf die Intensivstationen. Alle Fälle vermeiden zu wollen, geht an der Realität vorbei. Wenn man die gesamte Gesellschaft wieder lahmlegen will wegen Atemwegserkrankungen bei Jugendlichen, die viel milder verlaufen, dann muss man einen Plan auf den Tisch legen, welche Parameter man dann dafür verwenden will.“

Wieler brach mit seinem Festhalten am Inzidenzwert auch einen Streit mit Jens Spahn vom Zaun, der gerne weitere Faktoren mit heranziehen möchte, wie die Süddeutsche Zeitung berichtet. „Mit steigender Impfrate verliere die Inzidenz an Aussagekraft“, meint der Gesundheitsminister und möchte künftig auch die Zahl der Corona-Patienten in den Krankenhäusern mit heranziehen, um die Lage zu beurteilen.

Auch namhafte Wissenschaftler zeigten Unverständnis für Wielers Haltung, denn angesichts der Durchimpfungsrate von inzwischen weit über 50 Prozent der deutschen Bevölkerung, niedriger Covid-bedingter Krankenhauseinweisungen und ebenso leerer Intensivstationen vermag man nicht mehr nachzuvollziehen, warum eine hohe Inzidenz für die Bevölkerung gefährlich sein soll. So begrüßte der Medizinstatistiker Gerd Antes in einem Interview mit dem Deutschlandfunk die Forderungen der Deutschen Krankenhaus-Gesellschaft (DKG), zur Bewertung der Corona-Lage neben der Inzidenz auch andere Kennzahlen heranzuziehen. Bei allen Datenerhebungen sei vor allem das Alter zu berücksichtigen, weil das Alter zu den größten Risikofaktoren gehöre. 

Die DKG hatte vorgeschlagen, von der Sieben-Tage-Inzidenz der Corona-Neuansteckungen abzurücken und forderte für die Beurteilung der Lage weitere konkrete Kennzahlen: „Dazu gehören die Hospitalisierungsrate, eine altersstratifizierte Impfquote, die Belegung von Intensivkapazitäten, die Positivrate an Tests und die Steigerungsquoten, sowohl der Inzidenz als auch der Hospitalisierungsraten.“ Es sei „zwingend erforderlich, diese Kennzahlen transparent und öffentlich dazustellen, um die notwendige Akzeptanz für bevorstehende politische Entscheidungen zu erreichen.“ Alle dafür nötigen Daten lägen bereits vor, würden aber bisher „nicht transparent zugänglich gemacht und öffentlich dargestellt“ – was eine deutliche Kritik am RKI bedeutet.

Antes meinte in dem Interview mit dem DLF am 31. Juli (hier die Audio-Version), das Gleichsetzen von Geimpften und Getesteten sei „nicht einmal ansatzweise“ berechtigt: „Das Testen selbst ist dermaßen unkontrolliert und nicht begriffen. (…) Wir haben gegenwärtig 545 zugelassene Tests, wobei der Begriff ‚zugelassen‘ eher sarkastisch zu benutzen ist, so dass diese Gleichsetzung ein völliger Fehlgriff ist.“ Man brauche dringend eine Studie, die untersucht, wie diese Tests unter Realbedingungen funktionieren, denn man übersehe damit mittlerweile jeden zweiten Infizierten. „Der gegenwärtige Zustand, zu glauben, dass uns die Testerei den Rücken freihält, die wird uns ganz schwer auf die Füße fallen im Herbst.“ Das RKI sitze auf Zahlen, die nicht weitergegeben werden, ebenso die Gesundheitsämter, und weitere Daten werden derzeit nicht erhoben, obwohl man sie dringend brauche. Es sei „extrem peinlich für das RKI“, dass es gerade in dieser Woche das Gegenteil behauptet hat. Die Ministerpräsidenten befänden sich „permanent, geradezu chronisch, im Bereich ihrer eigenen Inkompetenz“. Er habe „nicht das Gefühl, dass die Landesministerpräsidenten und das Bundeskanzleramt ernsthaft daran interessiert“ seien, die Daten so zu erheben und auszuwerten, wie es nötig sei. Interessenkonflikte und Fremdinteressen seien eine Erklärung, warum es keine Stufenpläne und keine offene Diskussion über die Lage gäbe, einer der größten Störfaktoren sei die Bundestagswahl. Die „völlige Konfusion und Irritation in der Bevölkerung“ sei „mehr als bedenklich“.

Das Festhalten an den Inzidenzen werde „jetzt schon zum Problem“, berichtet die WELT: „In den ersten Landkreisen liegen die Werte bereits über 50 – und es drohen Schließungen, etwa von Fitness-Studios und Innengastronomie. Doch diese Grenzmarke stammt aus Zeiten vor den Massenimpfungen. Über das weitere Vorgehen herrscht in der Politik große Unklarheit.“ In NRW wurde daraufhin erstmal die Schutzverordnung geändert – Restriktionen gibt es jetzt erst, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz nicht mehr drei, sondern volle acht Tage über 50 liegt. Angesichts der hohen Infektiosität der Delta-Variante kann das aber schnell erreicht sein. Weshalb Gesundheitsminister Spahn flugs verkündete: „200 ist das neue 50“

„Labordaten allein sollten nicht unser Handeln bestimmen“ fordert in einem Gespräch mit der WELT auch der Infektionsepidemiologe Gérard Krause, der 14 Jahre am RKI tätig war und heute die Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung leitet: Wenn man die Fallzahlen „zum alleinigen Richtwert aller Maßnahmen macht, führt das zu falschen Schwerpunkten und vermeidbaren Nebenwirkungen. (…) Wirklich bedeutsam ist die Krankheitslast. (…) Als Arzt habe ich gelernt, dass eine Diagnose nicht allein auf Laborbefunden beruhen darf und erst recht nicht die Therapie. In der Epidemiologie, in der quasi die Bevölkerung den Patienten darstellt, gilt das gleiche.“

Die ausschließliche Orientierung auf Corona hat, so Krause, auch noch weitere Nachteile: „Würde man mit jedem Nasenabstrich auch auf die gängigen fünf oder zehn anderen Atemwegsinfektionen testen, könnte rasch der Eindruck entstehen, wir hätten zusätzliche enorme Epidemien.“ Wenn man die Fallzahlen so lange klein halten wolle, bis auch Kinder und Jugendliche geimpft seien, müsste man die Kindergärten über Jahre oder Jahrzehnte schließen, bis es eine Impfung gegen RSV gäbe, das „respiratorische Synzytial-Virus“, weil dieses Virus für Kinder viel gefährlicher sei als SARS-CoV-2. Auch bei den Krankenhauseinweisungen plädiert Krause für ein differenziertes Hinsehen, zumal es pro Tag in Deutschland zu über 50.000 Einweisungen kommt. Dagegen ist die Zahl von 213 neuen Klinikeinweisungen, die das RKI am 22. Juli gemeldet hat, ein Klacks. Die Hauptfrage sei, so Krause: „Ab welcher Krankheitslage rechtfertigen sich gesamtgesellschaftliche Einschränkungen in Mobilität, Kontaktverhalten, Erziehung, Bildung, Kultur und Wirtschaft?“ Diese Frage müssten Politik und Gesellschaft „dringend angehen“. Die bisherigen Beratungen der Politik seien „etwas eindimensional geführt“ worden, „sie wurden stark von Vertretern weniger Disziplinen dominiert.“ Fachleute aus den Sozialwissenschaften, der Epidemiologie und Public Health und selbst der klassischen Infektionsmedizin seien bei den Beratungen „nur am Rande eingebunden“ gewesen.

„Wir müssen endlich aufhören, nur über die Inzidenzen zu diskutieren“, forderte auch Francesco De Meo, Chef des Krankenhaus-Konzerns Helios-Health mit 89 Kliniken und Vater von zehn Kindern, in einem Interview mit der WELT. Er selbst hatte nach der Erstimpfung gegen Covid eine Embolie entwickelt und musste intensivmedizinisch behandelt werden. Beim Blick auf die Zukunft mache ihm Sorgen, „was 2020 auf der Strecke geblieben ist: die Kinder, denen wir zu viel zugemutet haben. Die Wirtschaftlichkeit im Gesundheitssektor, denn es wurden enorme Schulden angehäuft. Und die Bereitschaft, offen zu sagen, was man denkt. Wir müssen endlich aufhören nur über Inzidenzen zu diskutieren, sondern das gesamte Bild betrachten. Dafür brauchen wir andere Bewertungsmaßstäbe und, ehrlich gesagt, auch andere wissenschaftliche Ansätze. Dann wird Corona ähnlich wie eine Grippewelle sein: gut in den Griff zu bekommen.“ Schon im Oktober 2020 hatte De Meo sich in einem Blogbeitrag Gedanken über „Covid-20“ gemacht. So nennt er „eine Krankheit der Gesellschaft, die durch den Umgang mit Covid-19 verursacht“ wird: „Covid-20 ist allgegenwärtig. Die Menschen achten auf Infektionszahlen wie früher auf das Wetter. Und sie haben Angst.“

Und noch ein Epidemiologe, der Schweizer Christian Althaus, empfiehlt laut einem Bericht der WELT, künftig nicht mehr auf die Inzidenz zu schauen, sondern auf die Hospitalisierungen pro Tag. Der Schwellenwert dafür liege bei 1.200.

Wie weit wir davon derzeit entfernt sind, zeigt der neueste CODAG-Bericht der Ludwig-Maximilians-Universität München (CODAG = Covid-19 Data Analysis Group). Darin heißt es: „Auf den ersten Blick ist bereits ersichtlich, dass sich die Lage in den Intensivstationen komplett entspannt hat und die Prognosen im niedrigen einstelligen Bereich sind, teilweise bei Null liegen. (…) Anders als bei den Meldeinzidenzen ist bei den Hospitalisierungen keine Dynamik in den letzten Wochen zu erkennen – in keiner der ausgewiesenen Altersgruppen. (…) Die Todeszahlen bleiben stabil auf sehr niedrigem Niveau.“

Dass man mit höheren Inzidenzen gut leben kann und auch keine weitreichenden Freiheitsbeschränkungen braucht, zeigen einige unserer europäischen Nachbarländer. Großbritannien feierte schon am 19. Juli den „Freedom Day“ mit einer wilden Party auf den Straßen Londons. An diesem Tag wurden sämtliche Coronamaßnahmen aufgehoben – trotz drastisch steigender Inzidenz. Keine Masken mehr, keine Abstandsregeln mehr, keine zahlenmäßigen Beschränkungen mehr bei Veranstaltungen, wie u.a. das Deutsche Ärzteblatt berichtet. Die Impfrate liegt im Land bei 88 Prozent für die Erstimpfung bei Erwachsenen und bei 68 Prozent für die Zweitimpfung. Und entgegen allen Unkenrufen sinkt seit diesem Tag die Zahl der Neuinfektionen, wie die WELT und die NZZ berichten.

Ein solcher „Freiheitstag“ scheine in Deutschland „undenkbar“, kommentiert Anna Schneider in der WELT: „Die Angst vor der Wiederherstellung des Normalzustandes, der Autonomie und Freiheit aller, ist besorgniserregend. Virusvarianten müssen beobachtet und studiert, Impfungen an sie angepasst werden – das ist selbstverständlich. Doch es obliegt nicht dem Staat, jegliches Risiko auszumerzen: Das Leben ist kein ‚safe space‘, kann es nie sein.“ Es gehe um die grundlegende Idee der Freiheit, die darin bestehe, dass jeder über sein Leben selbst bestimmen kann. Daran dürfe auch Corona nichts ändern.

Ein ähnlicher Trend wie in Großbritannien ist auch in den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schweden festzustellen, auch dort gehen die Zahlen zurück (in Holland z. B. um 44 Prozent, die Sieben-Tage-Inzidenz liegt dort bei 121, in Deutschland bei knapp 18, Stand 3.8.21) – und das sind alles Länder, die weitaus großzügiger waren bei den Corona-Maßnahmen. In allen diesen Ländern gibt es schon lange keine Maskenpflicht mehr (außer in öffentlichen Verkehrsmitteln oder wenn kein Abstand gehalten werden kann, was de facto aber auch nicht sehr streng beachtet wird). „Deutschland hat keinen Plan, andere schon“, meint Gregor Schwung in der WELT am 29. Juli, zum Beispiel Dänemark: Derzeit liege die Inzidenz bei 95, aber die Dänen denken gar nicht daran, von ihrer Öffnungsstrategie abzuweichen. „Zu keinem Zeitpunkt gab es in Dänemark einen signifikanten Anstieg der Todeszahlen. Relativ zur Bevölkerung starben dort sogar weniger Menschen als in Deutschland, das viel verhaltener gelockert hatte. (…) Angesichts einer Impfquote von 51 Prozent vollständig immunisierter Bürger plant man weiter die vollständige Rückkehr zur Normalität.“ Seit Mitte Juni muss dort niemand mehr eine Maske tragen, selbst in öffentlichen Verkehrsmitteln ist das nur eine Empfehlung, denn „wer Unbehagen verspürt, kann sie abnehmen“, heißt es auf der Webseite des Gesundheitsamtes. Für den Restaurantbesuch in Innenräumen braucht man zurzeit noch die „3 G“ (geimpft, genesen oder getestet), aber das soll ab Oktober dann auch womöglich entfallen. Grundlage dafür ist die relativ hohe Impfbereitschaft, weil „die Regierung bei diesem Thema immer nachvollziehbar gehandelt hat“. Kaum noch jemand stirbt bei unseren nördlichen Nachbarn an Corona – trotz der höheren Inzidenzen: „Es ist die grundsätzliche politische Entscheidung, wie man ab einem bestimmten Punkt der Impfkampagne priorisiert: Ab wann ist der Punkt erreicht, an dem die Öffnung im Vordergrund steht – und nicht mehr die Beschränkungen.“

„Dänemark macht einen spektakulären Fehler“, hatte Karl Lauterbach dagegen noch im März auf Twitter gewarnt und prophezeit, dass viele ungeimpfte Ältere erkranken würden. Folge Deutschland dieser Politik, „würden über 60.000 Menschen sterben“ und „Jüngere mit Long Covid Schäden erleiden, die sie vielleicht den Rest ihres Lebens begleiten. Für das MECFS, eine die Lebensqualität stark einschränkende Störung des Denkens, Merkens und der Konzentrationsfähigkeit, haben wir bisher keine Therapie. Es gibt als unheilbar.“ Nichts davon ist eingetreten.  

Schweden hat eine Maskenpflicht nie angeordnet, Schulen und Kindergärten blieben offen, Restaurants und Einzelhandel ebenso. Was wurde diese Politik des schwedischen Chef-Epidemiologen Anders Tegnell an den Pranger gestellt … Heute zeigt sich: Sie hat sich bewährt. Die Todesfälle sanken in Schweden sogar auf Null, wie die Foundation for Economic Education meldet.

Apropos Todesfälle: In den großen Medien kaum beachtet, zeigt eine Analyse des Bayerischen Rundfunks, wie manipulativ zu Beginn der Corona-Krise mit Fotos gearbeitet wurde. Das Stichwort „Bergamo“ löst heute noch bei allen Gänsehaut-Gruseln aus – und jede:r hat sofort den Militär-Konvoi vor Augen, den angeblichen Massen-Abtransport von Särgen mit an Covid-19 Verstorbenen am 18. April 2020. Was aber zeigt dieses Foto wirklich? Die Recherche des BR hat ergeben: „In Wahrheit war das Militär nicht etwa eingesetzt worden, weil Berge von Leichen nicht anders hätten transportiert werden können. Die Anzahl der Verstorbenen war nicht höher als bei manchen Grippewellen in Italien. Es war die Angst vor dem im Frühjahr letzten Jahres noch ‚Killervirus‘ genannten Erreger. Um Fakten zu schaffen, beschloss man die sofortige Einäscherung der an COVID Verstorbenen. Normalerweise werden in Italien aber nur die Hälfte aller Verstorbenen eingeäschert. Deshalb reichten die Kapazitäten des Krematoriums in Bergamo nicht aus und die Leichen mussten in umliegende Orte transportiert werden.“