Gerecht, individuell und offen für Mitgestaltung: So soll es aussehen, das Gesundheitswesen der Zukunft, zumindest wenn man Bürgerinnen und Bürger fragt.
September 2021, an vier Orten in Deutschland passiert etwas Ungewöhnliches: Etwa 80 Bürger:innen, die zufällig ausgelost wurden, treffen sich, um über die Gesundheitsversorgung der Zukunft zu sprechen. Ungewöhnlich deshalb, weil Mitgestaltung in unserem Gesundheitswesen für Nicht-Expert:innen bislang kaum vorgesehen ist. Und das, obwohl Gesundheit von den meisten Menschen als wichtigstes Gut angesehen wird, das sie nicht nur von Gremien und Fachverbänden verwaltet sehen wollen. Im Gegenteil, Menschen wollen sich aktiv beteiligen und einbringen, wenn es um die Gestaltung ihrer Lebensumstände, von Zukunftsperspektiven und medizinischer Versorgung geht – das wird der mehrwöchige Prozess, an dessen Ende das erste deutsche Bürgergutachten Gesundheit steht, ganz klar zeigen.
Es wurde eifrig diskutiert in Bremen, Cottbus, Dortmund und Mannheim. Es wurden Fragen gestellt und Antworten gefunden, es gab Ideen und Vorschläge für ein Gesundheitswesen, das den Menschen dient und sie gesund erhält. Und am Ende wurde all das vom durchführenden nexus Institut für Kooperationsmanagement auf rund 40 Seiten zusammengefasst und als Empfehlungen an die Politik formuliert.
Was ist den Bürger:innen konkret wichtig? Vor allem möchten sie auf allen Ebenen aktiv in die Gestaltung ihrer eigenen Gesundheit und des Gesundheitssystems einbezogen werden. Dazu braucht es Informationen, die leicht zugänglich sind, es braucht eine größere Transparenz und es braucht vor allem Strukturen, die eine aktive Beteiligung ermöglichen.
Im Einzelnen plädieren die Bürger:innen für einen deutlich höheren Stellenwert von Prävention und Gesundheitsförderung und machen hierzu zahlreiche konkrete Vorschläge, angefangen von einem Schulfach Gesundheit über betriebliche Gesundheitsförderung bis hin zu kommunalen Angebotsstrukturen und Formaten für Rentner:innen.
In der ambulanten wie in der stationären Versorgung steht für die Bürgergutachter:innen eine patientenzentrierte, bedürfnisgerechte und individuelle Behandlung im Mittelpunkt, die das Lebensumfeld der Patient:innen aktiv in die Behandlung einbezieht. Dies setzt eine Aufwertung des Arzt-Patient:innengesprächs ebenso voraus wie die Freiheit zur Wahl verschiedener Therapieoptionen, die auch ergänzende natürliche Heilverfahren ganz selbstverständlich einschließen.
Strukturell liegt der Fokus auf einer besseren Vernetzung der Mediziner:innen, einer guten Erreichbarkeit und einer ausreichenden (Haus-)Ärzt:innendichte auf dem Land mit kürzeren Wartezeiten. Aber auch Gerechtigkeit spielt eine große Rolle für die Bürger:innen, besonders was den Zugang zum Gesundheitswesen angeht: Regionale und sozialräumliche Unterschiede sollten abgebaut und eine bezahlbare, gemeinsame gesetzliche Krankenversicherung für alle (Bürgerversicherung) eingeführt werden, damit eine hohe Qualität der Versorgung für alle gleichermaßen sichergestellt ist.
Das Gesundheitssystem soll vom Menschen her gedacht werden – sei es aus Sicht der Patient:innen oder der Angehörigen der Gesundheitsberufe. Bessere Bezahlung, bessere Arbeitsbedingungen und Familienfreundlichkeit weisen aus Sicht der Bürger:innen den Weg aus Pflegenotstand und Fachkräftemangel. Dazu sollte der finanzielle Druck und die Gewinnorientierung im Gesundheitssystem abgebaut werden. Erforderlich dafür ist eine größere Transparenz der Versorgungsstrukturen und eine unabhängigere Finanzierung.
Ein Schwerpunkt der Arbeitseinheiten lag zudem auf der Integrativen Medizin, deren verschiedene Therapieverfahren immer wieder auch öffentlich diskutiert werden. Bürgerinnen und Bürger, so das Ergebnis, wünschen sich möglichst individuelle, ganzheitliche Therapiekonzepte, die selbstverständlich konventionelle und naturmedizinische Behandlungsverfahren verbinden, also eine Integrative Medizin. Dabei legen sie Wert auf vielfältige und fundierte Informationsquellen und fordern eine Verbesserung der Studienlage von integrativmedizinischen Behandlungen, die schnell für die Praxis nutzbar gemacht werden sollten. Vor dem Hintergrund, dass der Großteil derzeit existierender Studien von der Pharmaindustrie beauftragt und finanziert wird, empfehlen die Bürger:innen, dass eine Studie künftig von verschiedenen Gruppen in Auftrag gegeben und die staatliche Förderung erhöht werden sollte. Auch bei der Erarbeitung von Leitlinien sollte aus Sicht der Bürger:innen ein breiteres Spektrum von Expert:innen, aber auch Patient:innen einbezogen werden. Zentrale Voraussetzung für die Kostenübernahme komplementärer Heilverfahren durch die Krankenkassen sollte nach wie vor der Nachweis der Wirksamkeit sein. Aber zusätzlich, so der Vorschlag der Gutachter:innen, sollte jede:r ein individuelles Budget erhalten, das in Absprache mit Ärztin oder Arzt für zusätzliche Leitungen eingesetzt werden kann.
Bürger*innen und Patient*innen möchten künftig auf allen Ebenen an der Gesundheitsversorgung beteiligt werden: angefangen vom ausführlichen Arzt-Patient:innengespräch über die Einbeziehung von Patient:innen in die Erarbeitung von Leitlinien bis hin zu einem Stimmrecht im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Die Bürger:innen fordern deshalb, die allgemeine Gesundheitskompetenz für eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung zu stärken, Qualifizierungsangebote flächendeckend auszubauen sowie den Gemeinsamen Bundesausschuss zu reformieren.
Hier nochmal alle Empfehlungen auf einen Blick:
- Prävention stärken
- Gesundheitsversorgung patient:innenzentriert organisieren
- Eine bezahlbare gemeinsame gesetzliche Krankenversicherung für alle
- Stärkung der Gesundheitsberufe
- Transparenz im Gesundheitssystem
- Stärkung der Mündigkeit der Patient:innen
- Patient:innenmitbestimmung stärken