Währenddessen greift die 2G-Strategie immer weiter Raum. In Hamburg lässt die Staatsoper ab 1. November nur noch Geimpfte und Genesene in die Vorstellungen, die Szene der privaten Theater und viele Clubs haben das schon seit geraumer Zeit zum Prinzip erhoben, allerdings vorwiegend aus wirtschaftlichen Erwägungen, denn wenn sie den Laden nicht vollmachen können, können sie kaum überleben. Auch das berühmte „Berghain“ in Berlin hat mit 2G seit vergangenem Wochenende wieder die Sau rauslassen dürfen, wie t-online genüsslich berichtet. Und in den meisten Bundesländern gibt es inzwischen 2G-Regeln für dies und das im öffentlichen Leben. Was im Mai 2020 noch als krude Verschwörungstheorie abgetan wurde, ist inzwischen Realität, wie ein ZDF-Faktencheck aus dieser Zeit offenbart – wie so manches, was man dereinst als Schwurbelei von Aluhüten diskreditiert hat. 

Der Ausschluss Ungeimpfter sei „billiger als ein Lockdown“, rechnet eine Studie des Leibnitz-Instituts vor – er würde viermal so hohe finanzielle Schäden verursachen, wie n-tv berichtet.

„Mehr Härten für die Ungeimpften“ fordert die Süddeutsche Zeitung (SZ) und lobt die Initiative des grün regierten Nachbarlandes Baden-Württemberg. Denn dort ist die Inzidenz trotz 3G weiterhin gestiegen, vor allem bei den Ungeimpften. Wird ein gewisser Schwellenwert überschritten, genügt für 3G kein Schnelltest mehr, sondern nur noch der sehr viel teurere PCR-Test. Und steigt die Inzidenz dennoch weiter, gilt automatisch 2G für öffentliche Einrichtungen wie Kinos, Restaurants und andere. „Die grobe Richtung stimmt“, meint die SZ dazu. „Sollte ein neuer Lockdown notwendig werden, um eine vierte Infektionswelle zu brechen, dann müsste sich dieser auf Ungeimpfte beschränken.“ Ministerpräsident Winfried Kretschmann sagt, wie der Spiegel berichtet, diese strengeren Maßnahmen für Ungeimpfte seien „keine Strafen“, sondern würden nur „zu deren eigenem Schutz ergriffen und verhinderten neue Extremsituationen auf den Intensivstationen.“

Doch damit nicht genug. Inzwischen schließen auch mehr und mehr Ärzt:innen Ungeimpfte bzw. Ungetestete von einer Diagnostik oder Therapie aus. So diskutierten die Gastroenterologen Mitte September auf ihrem Jahreskongress die Möglichkeit, endoskopische Untersuchungen wie eine Magen- oder Darmspiegelung nur noch unter 2G/3G-Bedingungen zuzulassen, schreibt die WELT. Vielerorts geschieht das bereits und greift weiter um sich. Die Sprecherin der niedergelassenen Magen-Darm-Ärzte, Katja Klugewitz, meint: „Da nur die wenigsten Untersuchungen wirklich dringend erfolgen müssen, sollte man von den Patienten und Patientinnen erwarten dürfen, dass sie ihren Anteil zur Sicherheit in der Praxis beitragen. Eine Impfung im Vorfeld erscheint mir durchaus zumutbar.“

Und offenbar sind solche Zutrittsbeschränkungen bereits weiter verbreitet als gedacht: „Keine Behandlung ohne Test?“ fragt tagesschau.de und berichtet über Arztpraxen, in denen 2G und 3G inzwischen gang und gäbe ist. Ob das mit dem hippokratischen Eid bzw. dem Genfer Gelöbnis vereinbar ist??

Sogar im Einzelhandel scheint 2G üblich zu werden. Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main hat jetzt einer Kauffrau Recht gegeben, die gegen die Ungleichbehandlung geklagt hatte, schreibt die WELT. Sie wollte, dass der Einzelhandel mit Hotels, Gaststätten, Clubs und Diskotheken gleichgestellt werden und ebenfalls 2G einführen darf. Das Gericht erlaubte der Händlerin, Kund:innen, die nur getestet sind, den Zutritt zu verwehren. Abstands- und Maskenpflicht im Verkaufsraum sowie Kapazitätsgrenzen können dafür entfallen.

Hohe Wellen geschlagen hat eine Forderung des „Verhaltensökonomen“ Marcus Schreiber in einem Interview mit dem SPIEGEL: „Wenn wir über die positiven Anreize (beim Impfen, d. Red.) nicht weiterkommen, bin ich sehr wohl dafür, massiv zwischen Geimpften und Nichtgeimpften zu diskriminieren. Ungleiches gleichzumachen ist keine Form der Gerechtigkeit. Es gibt einen objektiven Grund, warum Leute unterschiedlich behandelt werden – und sie haben es auch noch selbst in der Hand, gleich zu sein. Ich glaube bloß, dass wir noch viel Potenzial mit positiven Signalen haben. Die Keule sollten wir erst später auspacken.“ Und auf die Frage, wie eine solche Keule aussehen könnte, antwortet Schreiber: „Wenn Sie sagen: Ab dem 1. Dezember gilt eine klare Triage-Regelung in unseren Krankenhäusern: Wenn die Krankenhäuser voll sind, gibt es Vorfahrt für Geimpfte. Das wäre eine Keule, mit der viele Zögerer wohl zu einer Entscheidung gezwungen werden könnten.“ Und die Virologin Melanie Brinkmann, die zweite Interviewpartnerin, assistiert: „Ich glaube, es gibt eine Art Beißhemmung, Regeln auszusprechen. Weil man Angst hat vor einem Sturm der Ungeimpften. Das führt zu unverhältnismäßigen Zuständen.“

Als „ekelhafte Forderung“ bezeichnete Frédéric Schwilden in der WELT Schreibers Vorstoß, kranke Ungeimpfte ihrem Schicksal zu überlassen. Schreiber und Brinkmann sollten „Respekt vor mündigen Entscheidungen haben, so unreflektiert sie ihnen auch erscheinen mögen“, schreibt Schwilden. „Auch Menschen, die glauben, dass ein ehemaliger Zimmermann über Wasser gehen konnte und für sie an einem Kreuz gestorben ist, dürfen wählen. Brinkmann und Schreiber müssen – auch wenn ihnen Menschenwürde und Selbstbestimmung aus virologischer oder verhaltensökonomischer Sicht vielleicht nur als Viren erscheinen – akzeptieren, dass eine Pandemie eine Pandemie ist, und die Menschenwürde eben die Menschenwürde. Wer das nicht akzeptiert, spricht Menschen das Menschsein ab und wandert auf düsteren Spuren in eine ekelhafte Zukunft. Und noch einmal zur Erinnerung: Eine Pandemie ist gefährlich. Die Menschenwürde ist unantastbar."

„Die Diskriminierung von Ungeimpften ist ein Irrweg“, schreibt auch Andreas Rosenfelder in einem Kommentar für die WELT. „Immer schamloser wird gefordert, jenem Rest der Gesellschaft, der sich noch nicht zu einer Impfung gegen Corona entschlossen hat, elementare Rechte wie die medizinische Grundversorgung zu entziehen. Das will man dann aber bitte nicht als Diskriminierung oder gar Erpressung verstanden wissen, sondern lediglich als freundliche Überzeugungskunst.“ Der zweitwichtigste Grund, sich nicht impfen zu lassen, gleich nach den Zweifeln an der Sicherheit der Impfstoffe, sei der Trotz. Zwei Drittel der Impfverweigerer fühlen sich von den Erwartungen des Staates oder der Gesellschaft unter Druck gesetzt und verweigern den Gehorsam. Das ändere sich auch nicht durch kostenpflichtige Tests oder 2G-Regeln: „Der deutsche Sonderweg, die Impfbereitschaft durch Kollektivzwang und 2G-Ausgrenzung zu erhöhen, muss nach diesen neuen Erkenntnissen als gescheitert gelten“, meint Rosenfelder. „Ein Staat, der Missgunst und Zwietracht sät, wird Trotz ernten.“

Das bestätigt auch ein Bericht im SPIEGEL: „Trotz gehört mittlerweile zu den Hauptgründen, sich nicht impfen zu lassen“ und referiert dabei Daten aus dem 8. European Covid Survey von September 2021.

Die um sich greifenden 2G-Regeln lassen allerdings jetzt endlich namhafte Staats- und Verfassungsjuristen den Mund aufmachen. Der Verein „Initiative freie Impfentscheidung e. V.“ (IFI) hat bei dem Freiburger Staatsrechtler Dietrich Murswiek ein Rechtsgutachten (auf der Webseite von IFI sind auch eine Kurzzusammenfassung und ein Fazit des 111 Seiten umfassenden Gutachtens eingestellt) in Auftrag gegeben, das die Freiheitseinschränkungen für Ungeimpfte im Hinblick auf ihre Verfassungsgemäßheit oder -widrigkeit untersuchen sollte. Murswiek kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: „Alle Benachteiligungen Ungeimpfter sind verfassungswidrig.“ Das heißt: Sowohl die 2G- als auch die 3G-Regel UND die Vorenthaltung der Verdienstausfallentschädigung im Falle einer coronabedingten Quarantäne sind mit dem Grundgesetz unvereinbar und verstoßen gegen die Grundrechte der Betroffenen.

Auch die „Ärztinnen und Ärzte für individuelle Impfentscheidung“(ÄFI) unterstützen Klagen gegen die 2G-Regeln bis hin zur Verfassungsbeschwerde, wie aus einem Video des Vorstands deutlich wird. Der Verein hatte bereits die Aktion #2Ggehtgarnicht losgetreten, die mittlerweile über 1.000 Statements zusammengetragen hat.

Das „Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates und die Rationalität seiner Entscheidungen“ sei im Laufe der Zeit erschüttert worden, konstatiert auch der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, in einem Gespräch mit der WELT: „Es wurde nicht generell, aber doch teilweise ziemlich irrational, widersprüchlich, kopflos und im Übermaß reagiert. Manche Entscheidungen waren fast absurd oder schlicht nicht durchsetzbar, nehmen Sie nur die unkontrollierbaren Aufenthaltsbeschränkungen in Privatwohnungen. Wenn das Recht aber nur auf dem Papier steht und gar nicht durchsetzbar ist, ist das Gift für einen freiheitlichen Rechtsstaat.“ Die „Erosion unserer Freiheitsrechte“ habe nicht erst mit Corona begonnen, sondern „wurde durch die Pandemie lediglich erheblich beschleunigt“. Es müsse „wieder klarer werden, dass der gute Zweck in einem freiheitlichen Rechtsstaat nicht jedes Mittel heiligt. ‚Not kennt kein Gebot‘, dieser Satz darf nicht Raum greifen.“ Auch das allgemein legitime Ziel, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, rechtfertige „nicht jeden Grundrechtseingriff. Nutzen und Schaden müssen stets in einem angemessenen Verhältnis stehen, und die Beweislast für das Vorliegen der Verhältnismäßigkeit trägt der Staat. Schwerwiegende Freiheitsbeschränkungen aus bloßer Vorsorge sollte es künftig nicht mehr geben. Wir müssen uns rechtsstaatlich wappnen – das waren wir diesmal lange Zeit nicht.“  

„Freiheit in Gefahr – warum unsere Freiheitsrechte bedroht sind und wie wir sie schützen können" heißt deshalb ein gerade erschienenes Buch von Hans-Jürgen Papier (Heyne Verlag, 288 Seiten, 22 Euro), in dem er ausführlich Stellung nimmt zu den verschiedenen Fragen, die die Regierungs-Maßnahmen während der Corona-Krise aufgeworfen haben. Papier schildert darin auch seine eigenen Erfahrungen mit der Freiheit, die seinen Lebensweg und vor allem seine berufliche Karriere geprägt haben. Sein Fazit: „Um unsere Freiheit auch gegenüber zukünftigen Herausforderungen abzusichern, bedarf es der permanenten gemeinsamen Anstrengung des Staates, der Gesellschaft und jedes Einzelnen. Gesetzgebung und Politik, aber auch die für die Demokratie schlechthin konstitutiven freien Medien sind hier in erster Linie gefragt, allen autoritären und paternalistischen Bestrebungen eine klare Absage zu erteilen. Verantwortung zu übernehmen bedeutet für die an Entscheidungen Beteiligten, die Karten auf den Tisch zu legen, für Transparenz hinsichtlich bestehender und kommender Problemstellungen zu sorgen und bei Lösungsvorschlägen, die sie unterbreiten, auf Nachhaltigkeit zu setzen. Darüber hinaus gilt es, Anreize für die Bürgerinnen und Bürger zu schaffen, sich ebenfalls wieder mehr in die Sache des Gemeinwesens einzubringen. Der Idee vom Staat als Vollversicherer für alle Lebenslagen muss entschieden entgegengetreten werden."  

Nach der Lektüre wünscht man sich, Papier wäre nicht emeritiert, sondern immer noch an der Spitze dieses Gerichts, das so wichtig ist für die Wahrung unserer Grundrechte und von dem man seit Monaten gerade dazu nichts hört. Und man fragt sich, ob das vielleicht mit einem inzwischen reichlich umstrittenen Treffen der Bundesregierung mit Vertreter:innen des Bundesverfassungsgerichts am 30. Juni 2021 zusammenhängen könnte. Was in normalen Zeiten dem Meinungsaustausch durchaus dienlich sein kann, hatte unter Corona-Bedingungen einen „haut goût“, ein Gschmäckle, wie man in Karlsruhe sagen würde. Denn bei dem gemeinsamen Abendessen hielt Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) einen Vortrag zum Thema „Entscheidung unter Unsicherheiten“, wie die WELT berichtet (einer der Autoren, Tim Röhn, informiert darüber auch bei Twitter), und warb darin „um Verständnis für politische Entscheidungen in Sachen Corona“. Nun sind beim Bundesverfassungsgericht allerdings zahllose Beschwerden gegen das Vierte Bevölkerungsschutzgesetz, die „Bundesnotbremse“, anhängig – laufende Verfahren mithin. Auch Susanne Baer, Richterin des Ersten Senats und Berichterstatterin in zahlreichen Verfahren gegen dieses Gesetz, trug beim Abendessen vor – was genau, das weiß man nicht. Dass die Corona-Politik jedoch überhaupt besprochen wurde, verleiht diesem Treffen schon ein gewisses Etwas. Honi soit qui mal y pense (ein Schelm, der Böses dabei denkt) … Die Rechtsanwälte, die die Freien Wähler in einem dieser Verfahren gegen die Bundesnotbremse vertreten, haben jetzt erstmal Ablehnungsgesuche wegen Befangenheit gegen Stephan Harbarth und Susanne Baer eingereicht, wie Niko Härting auf Twitter berichtet.

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