Es war schon ein ziemlicher Knaller, den der Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, und sein Stellvertreter, Stephan Hofmeister, am 17. September zündeten: Analog dem britischen Vorbild forderten sie in einer Pressemitteilung einen „Freedom Day“ für Deutschland, also nichts weniger als „die Aufhebung aller staatlich veranlassten Restriktionen der Corona-Pandemie“. Wer sich mit einer Impfung schützen wolle, können dies tun. „Jetzt liegt es nicht mehr in der Verantwortung des Staates, sondern in der individuellen Verantwortung jedes und jeder Einzelnen“, sagte Hofmeister auf der Vertreterversammlung der KBV. Es sei „ein Unding, dass dann die, die sich impfen lassen oder genesen sind, in ihren Grundrechten weiterhin eingeschränkt werden. Es muss Schluss sein mit Gruselrhetorik und Panikpolitik.“

Gassen verwies auf das Beispiel Großbritannien, wo schon Mitte Juli die Maßnahmen weitgehend aufgehoben worden seien und entgegen allen Unkenrufen „das Gesundheitssystem nicht kollabiert“ sei. Das müsse Mut machen – schon aufgrund der höheren Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitswesens. Ohne Ankündigung eines „Freedom Day“ würde sich Deutschland endlos weiter durch die Pandemie schleppen.

Das konnten das Kanzleramt sowie SPD und Grüne natürlich nicht so stehen lassen. „Von einem Freedom Day im Herbst halte ich derzeit nicht viel“, sagte Kanzleramtsminister Helge Braun dem Fernseh-Sender n-tv. 20 Millionen Deutsche hätten immer noch keinen Impfschutz. Dabei hatte Braun im März noch getönt: „Wenn wir jedem in Deutschland ein Impfangebot gemacht haben, dann können wir zur Normalität in allen Bereichen zurückkehren.“

Dass SPD-Politiker Karl Lauterbach Gassens Vorschlag für „ethisch nicht vertretbar“ hält, verwundert nicht. Ihm reichen 80 Prozent Geimpfte unter den Erwachsenen immer noch nicht aus, wie er auf Twitter verkündet: „Trotzdem reicht das nicht für einen Freedom Day. Ein paar Wochen 2G und gute Impfangebote würden helfen.“ Dass es auch Menschen mit natürlicher Immunität aufgrund einer durchgemachten Infektion gibt und schon deshalb kaum noch höhere Impfquote erreichbar sind, scheint der Gesundheitsexperte nicht berücksichtigen zu wollen.

Ins gleiche Horn stößt auch Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen (Bündnis 90/Die Grünen): „Jetzt so zu tun, als sei die Pandemie ein Privatvergnügen und Ungeimpfte letztlich selbst dran Schuld und wir könnten uns jetzt von allen Schutzmaßnahmen verabschieden, das halte ich für zynisch.“

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn verwies auf die Impfquote, die er in Deutschland noch für zu niedrig hält, wie die FAZ berichtet: „Im Nordwesten sind wir fast am Ziel, im Südosten sollten wir noch deutlich höhere Quoten erreichen.“ Spahn zufolge haben knapp zwei Drittel der Deutschen inzwischen vollen Impfschutz, etwas mehr als zwei Drittel erhielten mindestens eine Impfung. Bremen, Schleswig-Holstein, Hamburg und Nordrhein-Westfalen sind mit über 70 Prozent Impfquote Spitzenreiter; Sachsen, Thüringen, Bayern und Baden-Württemberg mit Quoten zwischen 54 und 64 Prozent die „Schlusslichter“.

Die eigentlichen Zahlen dürften jedoch erheblich höher liegen, denn selbst das Robert Koch Institut (RKI), eigentlich zuständig für eine solche Datenerhebung, schätzt die offizielle Impfstatistik als zu niedrig ein“, wie der SPIEGEL berichtet. Laut den Meldedaten seien bislang gut 75 Prozent der Erwachsenen in Deutschland vollständig gegen Corona geimpft. Die tatsächliche Zahl könnte sogar noch höher liegen, meint das RKI.

„Niemand hat den genauen Überblick über die tatsächlichen Impfzahlen“, zitiert DocCheck zwei Ärzt:innen. Das Meldesystem funktioniere „nicht wie gewünscht“, habe sogar das Robert Koch Institut (RKI) zugegeben. „Das Problem: In Deutschland existiert kein zentrales Register, in das alle Impf-Meldungen einfließen.“ So entsteht ein wildes Chaos aus verschiedenen Meldungen, bei dem viele Übertragungsfehler möglich sind. 

Das stößt auf Kritik aus verschiedenen Richtungen. Gerald Gaß, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft meint, die vom RKI und den Gesundheitsämtern definierten Meldeverfahren seien, wie einem Bericht der WELT zu entnehmen ist, „immer noch unzureichend und einer Pandemie dieses Ausmaßes unangemessen. Auf der Grundlage offenbar falscher und unzureichender Daten werden für Millionen Menschen gravierende Entscheidungen getroffen und Grundrechte eingeschränkt.“

Der Bundesgesundheitsminister meint angesichts der neuen Zahlen, die Impfkampagne sei „noch erfolgreicher als bisher gedacht“, und „aus heutiger Sicht wird es keine weiteren Beschränkungen mehr brauchen“. Aber Vorsicht – Jens Spahn meint damit nicht das, was man daraus herauslesen könnte. Es ist nicht so, dass er jetzt aufgrund der hohen Impfquote alle Einschränkungen aufheben möchte – nein, nein, weit gefehlt! Es sollen lediglich „keine weiteren Beschränkungen“ mehr nötig sein, sprich: Lockdowns oder Ausgangssperren. Alles, was bisher schon angeordnet war – 3G, 2G, Masketragen in Innenräumen und in öffentlichen Verkehrsmitteln usw. – bleibt natürlich bestehen.  

Apropos Ausgangssperre: Die von Markus Söder im März 2020 verhängte hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof gerade für unwirksam und rechtswidrig erklärt, wie die WELT berichtet: „Diese Regelung aus der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung habe gegen ‚das Übermaßverbot aus höherrangigem Recht‘ verstoßen und sei deshalb ‚unwirksam‘ gewesen, heißt es in den Entscheidungsgründen. (…) Mit anderen Worten: Söder, der sich in der Corona-Krise als Angehöriger des ‚Teams Vorsicht‘ eingruppiert hat, hat den Leitsatz einer freiheitlichen Demokratie ignoriert, wonach auch der gute Zweck des Gesundheitsschutzes nicht alle Mittel des Freiheitsentzugs heiligt. (…) Die Richter zweifeln nicht nur die ‚Praktikabilität‘ und die ‚Effektivität‘ der Ausgangssperre an, sie bescheinigen der bayerischen Staatsregierung auch ein fragwürdiges Menschenbild, indem sie schreiben: ‚Sollte in dem Verweilen in der Öffentlichkeit eine Gefahr für die Bildung von Ansammlungen gesehen worden sein, weil sich um den Verweilenden sozusagen als Kristallisationspunkt Ansammlungen von Menschen bilden könnten, so unterstellt diese Sichtweise ein rechtswidriges Verhalten der Bürger und setzt dieses sogar voraus.‘“ Eine Revision beim Bundesverwaltungsgericht wurde zugelassen, was „die Möglichkeit zu einer höchstrichterlichen Grundsatzentscheidung eröffnet“.

Einige Medien mahnen trotz der Einwände von Regierungsseite das Aufheben der Restriktionen an: „Die neu ermittelte Impfquote erlaubt endlich mehr Freiheit“, meint Anna Schneider in einem Kommentar für die WELT. „All die beispiellosen Freiheitseinschränkungen, die die Republik im Namen der Pandemiebekämpfung auch dann noch gängelten, als längst jeder sein Impfangebot hatte, entbehren also ihrer zentralen Grundlage: belastbarer Daten. Dass der Staat nicht einmal in der Lage ist, seine Impfkampagne statistisch zu erfassen, ist eine Farce; dass er sich ob seiner Unwissenheit das Recht nimmt, die Freiheit seiner Bürger länger als nötig in längst unerträglichem Maße zu beschneiden, entbehrt jeder Rechtfertigung. Stattdessen spezialisierte man sich darauf, sogenannte ‚Impfverweigerer‘ zu Bürgern zweiter Klasse zu degradieren, moralisch zu ächten und so die Polarisierung der Gesellschaft voranzutreiben.“

Die Berliner Zeitung spiegelte die Kontroverse um den „Freedom Day“ auf ihre Art und gab Milosz Matuschek sowie Elizabeth Rushton die Gelegenheit zu zwei Kommentaren im Sinne von Pro (Matuschek) und Contra (Rushton). Das britische Projekt „Freedom Day“ sei „von Anfang an nicht mehr als ein Marketing-Slogan“ gewesen, meint Elizabeth Rushton: „Es ist kompletter Wahnsinn, auch politisch, solch endgültige Zusagen zu machen, wenn derzeit immer neue Virusvarianten in der Welt auftauchen. Deutschland sollte diesen Weg meiden. (…) Nur mit mehr Impfungen können wir einen Punkt erreichen, an dem jeder wirklich mit diesem Virus als Teil des neuen Alltagslebens leben kann. Bis dahin gibt es keine wirkliche Freiheit vom Coronavirus.“

Das kontert Milosz Matuschek auf seine Art: „Die Politik klammert sich an ein Narrativ. Die Pandemie-Erzählung ist ihre Rettungsinsel. Medizinisch ist die Krise im Griff, wenn sie denn – mit Blick auf die Intensivbetten – je außer Kontrolle war. Das Virus ist inzwischen ein reines Politikum. (…) Das letzte Versprechen lautete: Die Maßnahmen werden aufhören, wenn alle Menschen Impfangebot bekommen haben. Die Realität lautet: Wer das ‚Angebot‘ nicht will, wird mit indirektem Zwang, Ausgrenzung und Diffamierung überzogen, zugleich wird weiter Pandemie-Panik betrieben. Man bedient sich aus dem Inventar totalitärer Staaten. (…) Die neueste Unterscheidung in Geimpfte und Ungeimpfte ist ein weiterer fataler Irrweg. Es gibt dafür keinen sachlichen Grund. Und wenn kein sachlicher Grund gegeben ist, sprechen Juristen von Willkür. (…) Es weht ein Hauch von DDR und Politbüro durch Deutschland. (…) Die Politik braucht die Angst vor der Pandemie, hat aber offenbar weitaus größere Angst vor den vielen offenen Fragen, die jetzt virulent werden. Nicht die vierte Welle ist die Gefahr, sondern die Welle der Ungereimtheiten.“

Die sofortige Aufhebung aller Corona-Maßnahmen forderten auch Ärzt:innen und Therapeut:innen in einem Offenen Brief an die Bundesregierung.

Für das europäische Ausland sind schon niedrige Quoten ausreichend, um die Corona-Maßnahmen deutlich zu lockern. In Schweden z. B. sind ca. 60 Prozent der Bürger:innen geimpft – und dort sind inzwischen laut n-tv nahezu alle Corona-Einschränkungen gefallen. Schweden hat schon im Frühjahr einen Fünf-Stufen-Plan entwickelt, der im Juni mit Stufe 1 begonnen wurde, am 29. September hat Stufe 4 begonnen. Es gibt weder eine Maskenpflicht, noch Massentests noch Hygieneregeln noch Eingangsbeschränkungen, sondern „anfassen, Freude am Lernen, Kind sein dürfen“, wie Henning Rosenbusch auf Twitter schreibt. Dass Schweden den erfolgreichen Weg gegangen ist, bestätigt auch ein Interview des YouTube-Kanals UnHerd mit dem schwedischen Chef-Epidemiologen Anders Tegnell. „Richten Sie über mich in einem Jahr“, hatte er im Sommer 2020 gesagt, als alle über ihn und den „schwedischen Weg“ hergefallen sind. Das Jahr ist vorbei – und das Gespräch mit ihm mehr als sehenswert. Es ist ein Beispiel, wie man eine schwierige Situation angemessen von allen Seiten betrachten kann, um entsprechende Konsequenzen daraus abzuleiten. Und vor allem: Wie man mit diesem Virus gut leben kann, ohne die Bevölkerung ständig zu gängeln.

In Dänemark wurden – wir berichteten – schon Anfang September alle Beschränkungen aufgehoben – und das bei einer Impfquote von 76 Prozent. „Die meisten Corona-Schutzmaßnahmen, die bei uns als selbstverständlich gelten, wurden dort schon vor Monaten abgeschafft“, schreibt Andreas Rosenfelder in einem Kommentar für die WELT. „Auf den Gedanken, die Dänen hätten sich ihre Freiheit lediglich durch das tüchtige Erreichen einer vorgegebenen Impfquote ‚verdient‘, kann man nur in einem Land kommen, dessen Rechtsauffassung sich in anderthalb Jahren depressiver Notstandspolitik bedenklich verfinstert hat – und das die Realität in anderen Ländern nur noch wie durch einen Filter wahrnimmt. (…) Dänemark steht heute in jeder Hinsicht besser da als Deutschland. Insbesondere die Alten, im Gegensatz zu Kindern und Jugendlichen ernsthaft gefährdet, sind fast vollständig geimpft. Ein Staat, der seinen Bürgern vertraut, genießt halt auch im Gegenzug mehr Vertrauen als einer, der die ‚Impfunwilligen‘ durch 2G-Schikanen und Stimmungsmache zu ihrem Glück zu zwingen versucht. Höchste Zeit, von Dänemark zu lernen.“

Andernorts, vor allem „Down under“, in Australien und Neuseeland, werden gerade wieder die Daumenschrauben angezogen und die Lockdowns verschärft bzw. ausgeweitet. Sydney testet sogar ein „Quarantänesystem mit Gesichtserkennung“ für vollständig Geimpfte, die aus dem Ausland einreisen, wie tagesschau.de berichtet: „Die Behörden wollen eine Handy-App mit Gesichtserkennung einsetzen, um die Einhaltung der Vorschriften der rund 175 Test-Personen zu überwachen.“ Wer ins Land kommt, muss derzeit trotz Impfung auf eigene Kosten für zwei Wochen in einem Hotel in Quarantäne. Mit der Gesichtserkennungs-App soll das jetzt auch zuhause möglich sein …

Neuseeland muss inzwischen eingestehen, dass seine „No-Covid“-Strategie gescheitert ist, wie die WELT vermeldet. Trotz wochenlangen Lockdowns habe sich die Delta-Variante dort weiter ausgebreitet, und „ein ehemaliger Regierungschef stellt Vergleiche mit dem nordkoreanischen Regime an“.

In Israel ist dem Gesundheitsminister und der Innenministerin ein peinlicher Lapsus passiert: Vor einer Kabinettssitzung plauderten beide über den in Israel noch obligatorischen Covid-Pass, ohne zu merken, dass die Mikrophone auf dem Tisch vor ihnen bereits offen waren. Und so erfuhr die Öffentlichkeit, wie The Times of Israel berichtet, dass Gesundheitsminister Horowitz meint, es gebe „keine medizinische oder epidemiologische Rechtfertigung für den Covid-Pass, er soll nur Druck auf Ungeimpfte ausüben, sich impfen zu lassen.“

Die deutsche Regierung bleibt – zumindest solange sie noch im Amt ist – stur bei ihrem Kurs. Im Wahlkampf spielte das Thema Corona keine große Rolle. Weshalb der renommierte Medizin-Statistiker Gerd Antes zusammen mit anderen Wissenschaftler:innen schon Anfang September (wir berichteten) einen Offenen Brief an die Parteien im Bundestag richtete. Innerhalb von nicht mal drei Wochen unterzeichneten über 3.500 Menschen diesen Brief, und es werden täglich mehr. Von den angeschriebenen Parteien hat lediglich die FDP geantwortet – Christian Lindner schrieb persönlich und sehr ausführlich. Sein Schlusssatz: „Die epidemische Notlage von nationaler Tragweite sollte sofort beendet werden.“ 

In einem Interview mit der Berliner Zeitung sagte Antes: „Die politischen Parteien vermeiden seit anderthalb Jahren, sich festzulegen. Das können wir uns aber bei einer solch wichtigen Frage nicht leisten. (…) Politik, Wissenschaft und Medien haben Panik und Alarmismus verbreitet. (…) Der Chef des Robert Koch Instituts (RKI), Lothar Wieler, ist ein Angestellter des Bundesgesundheitsministeriums. Er kann nicht gleichzeitig als Wissenschaftler auftreten und so tun, als würde er unabhängig forschen. Dasselbe gilt für den Infektionsmodellierer Dirk Brockmann. Er tritt oft als Wissenschaftler der Humboldt-Universität auf, diese Professur wird jedoch vom RKI finanziert. (…) Die fachliche Auswahl der Experten war immer wieder völlig unangemessen, um für die schwierige Situation geeignete Entscheidungsgrundlagen zu schaffen. In einer Beratersitzung der Bundeskanzlerin saßen zwei Physiker und nur ein Kliniker, der Patienten sieht. (…) Die nun wieder aufkommende Panikmache ist unangebracht. Die Ankündigung von Herrn Wieler, wir müssten uns auf eine „fulminante“ vierte Welle einstellen, halte ich für unhaltbar.“

Die Wissenschaft, so Antes, habe „von der ersten Minute an nicht gemacht, was sie hätte machen müssen, dasselbe gilt für die Politik. Vor allem das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat eine klägliche Rolle gespielt. Man hat der Charité 150 Millionen Euro gegeben mit dem Auftrag, die Zusammenarbeit in einem Universitätsnetzwerk zu koordinieren. Der relevante Output ist gemessen daran alles andere als beeindruckend.“

Antes steht damit nicht allein. Der deutschen Corona-Forschung wurde ganz offiziell ein „miserables Zeugnis“ ausgestellt, wie die FAZ berichtet: „Verzagt, versagt, verloren: Deutschlands klinische Forschung zu Corona war im ersten Jahr offenbar ein einziges Desaster. Das legt eine Studie zur Forschungsbilanz nahe.“ Wissenschaftler:innen aus der Schweiz und Deutschland hatten die Studienlage analysiert: „Weltweit wurden 2020 rund 3000 Corona-Studien mit evidenzbasiertem Protokoll registriert. Darunter befanden sich 65, die in Deutschland oder mit deutscher Beteiligung vorgenommen werden sollten. Alle 65 Forschungsvorhaben verfolgten das Ziel, eine neue Therapie oder einen Impfstoff gegen die Covid-19-Erkrankung zu finden. Dagegen gab es keine Untersuchungen zu nicht-pharmakologischen Fragestellungen, etwa, wie sich das Virus verbreitet und wie hilfreich so einschneidende Regelungen wie Ausgangsbeschränkungen sind. Auch Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten und Pflegeheime wurden in den Studien nicht berücksichtigt.“ Elf der 65 Studien wurden dabei noch gar nicht begonnen und werden auch nicht mehr aufgelegt, nur 14 wurden zu Ende geführt. So fragt man sich, wo die 1,5 Milliarden Euro eigentlich geblieben sind, die der Bund insgesamt für die öffentlich finanzierte Corona-Forschung zur Verfügung gestellt hat.

Einen bemerkenswerten „Kommentar aus Sicht der Evidenzbasierten Medizin“ (EbM) zum Stichwort „Wissenschaftsleugnung“ hat Ingrid Mühlhauser, emeritierte Professorin für Gesundheitswissenschaften, für das Ärzteblatt Sachsen verfasst. Darin liest sie den Medien und ebenso so manch bekanntem Namen – von Lauterbach bis Drosten – die Leviten: „Das Anliegen der EbM bleiben in der medialen Berichterstattung weitgehend unberücksichtigt. Das Konzept des NDR-Podcasts zur Corona-Pandemie ermöglicht akademisch gebildeten Zuhörern einen Einblick in die Welt der Virologie. Wenn es jedoch um Fragen von Wirksamkeit, Nutzen und Schaden (präventiver) medizinischer Maßnahmen geht, dann widerspricht die Befragung eines einzelnen Virologen zu einere Vielzahl von Themen aus den unterschiedlichsten Disziplinen grundlegend den Ansprüchen an eine evidenzbasierte Wissenschaftskommunikation. Auch der von vielen Medien praktizierte Faktencheck ist wenig geeignet, den aktuellen Wissensstand zu Nutzen und Schaden medizinischer Verfahren verlässlich zu eruieren. Beim Faktencheck zu COVID-19 wurde vielfach die suspekte Aussage lediglich mit der Meinung eines (anderen) Experten abgeglichen. Wer Experte ist, entscheidet die Redaktion. (…) Gerade die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie fragmentarisch unser Wissen oft ist. Dann geht es vorrangig um die Interpretation von unsicheren wissenschaftlichen Daten und die Implikationen, die sich daraus ableiten. Ein solcher Aushandlungsprozess müsste Vertreter aller betroffenen Wissenschaftsdisziplinen und Gesellschaftsgruppen beteiligen.“

Wie die Pandemie die Normen der Wissenschaft verändert hat, zeigt auch ein Artikel des US-Epidemiologen John P. A. Ioannidis im Online-Magazin Tablet. Die Corona-Krise habe zwar weltweit das Interesse der Bevölkerung an der Wissenschaft geweckt, aber die Wissenschaft selbst habe gerade durch die Pandemie ihre Glaubwürdigkeit verloren und an Qualität eingebüßt. Zuvor sei die Wissenschaft einer „hierarchisch orientierten Elite“ vorbehalten gewesen. Das kostenfreie Teilen von Wissen war begrenzt und die Wissenschaft schwebte in ihren eigenen Sphären. Eine offenere Berichterstattung in der Pandemie hätte mehr Klarheit vermitteln können. Stattdessen habe Corona dazu geführt, dass neben neuen, guten Studien unzählige qualitativ schlechte Forschungsarbeiten veröffentlicht wurden. Aufgrund polarisierender Ergebnisse oder über den Einfluss von Politik und Wirtschaft wurde die Arbeit von etablierten unabhängigen Wissenschaftlern unterdrückt und als widersprüchlich und unglaubwürdig dargestellt. Die breite mediale Öffentlichkeit konzentriere sich, so Ioannidis, eher auf die Übertreibung von Forschungsergebnissen anstatt darauf, über die Methodik sowie über die Unsicherheit und eine begrenzte Aussagekraft zu berichten.

„In Krisenzeiten gedeihen die Mächtigen, und die Schwachen werden noch mehr benachteiligt“, schreibt Ioannidis in seinem Resümee. „Inmitten der pandemischen Verwirrung wurden die Mächtigen und Widersprüchlichen noch mächtiger und widersprüchlich, während Millionen von benachteiligten Menschen starben und Milliarden litten. Ich befürchte, dass die Wissenschaft und ihre Standards das Schicksal der Benachteiligten teilen. Das ist schade, denn die Wissenschaft kann immer noch allen helfen. Die Wissenschaft bleibt das Beste, was den Menschen passieren kann, vorausgesetzt, sie kann sowohl tolerant sein als auch toleriert werden.“

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