Im Corona-Spezial von Oktober berichteten wir über ein Treffen der Richter:innen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) mit der Bundesregierung am 30. Juni 2021. Die WELT hatte dazu mehrere Enthüllungsberichte gebracht, die zeigten, dass hier durchaus über Themen gesprochen wurde, über die gerade mehrere Klagen beim BVerfG anhängig sind. Dazu zählt auch die „Bundesnotbremse“ und die damit verbundenen Einschränkungen der Grundrechte. Speziell gegen den Präsidenten des BVerfG, Stephan Harbarth, und eine der Richterinnen, Susanne Baer, war ein Ablehnungsantrag auf Befangenheit gestellt worden.

Inzwischen hatte die WELT noch weitere Details zu dem sommerlichen Treffen veröffentlicht. „Der Ablauf des Dinners sorgte für Kritik, weil er nach Ansicht einiger Juristen den Eindruck der Einflussnahme der Regierung auf das oberste deutsche Gericht erwecken könnte.“ Das Kanzleramt selbst habe „die Brisanz des Anliegens“ erkannt, aber dennoch den Vorträgen zugestimmt. Denn offenbar hatte das Verfassungsgericht selbst den Anstoß für die Corona-Rede beim Kanzlerinnen-Dinner gegeben. Harbarth persönlich habe sich dafür eingesetzt, „kurzfristig die Tagesordnung zu ändern“: „Zur Vorbereitung auf den Abend nordete Harbarth Merkel und ihre Minister ein“, heißt es in einem weiteren Bericht der WELT. „Kann es sein, dass Harbarth an diesem Abend weniger das Grundgesetz im Auge hatte, dafür mehr die Anliegen seiner ehemaligen Chefin?“ fragen Elke Bodderas und Tim Röhn in ihrem Artikel. Denn Harbarth war von 2009 bis 2018 CDU-Abgeordneter im Bundestag und ab 2016 einer der stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion. Mit der Kanzlerin ist er per Du. „Offenbar gab Harbarth die Fragen vor, die in den Vorträgen beim Abendessen besprochen werden sollten: ‚Welche Beurteilungsspielräume verbleiben den Gewalten bei tatsächlichen Unklarheiten? Wie viel Überprüfbarkeit verbleibt dem BVerfG? Wie kann Sicherheit gewonnen werden? Welche Evaluierungspflichten sind dabei zu berücksichtigen?‘“ In einem weiteren Bericht der WELT heißt es: „Harbarth hatte sich in einem Schreiben bereits gegen die Vorwürfe verteidigt. Er schrieb: ‚Ich hielt und halte diese Themen für einen Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen Verfassungsorganen für geeignet, weil sie abstrakte und zeitlose Fragestellungen betreffen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten auch in zahlreichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts niedergeschlagen haben.‘ Die besprochenen Themen ließen sich, so Harbarth‚ ohne konkreten Bezug zu anhängigen Verfahren‘ erörtern.“

Das Dinner im Kanzleramt sei „geeignet, den guten Ruf des Bundesverfassungsgerichts zu schädigen“, schreibt Thorsten Jungholt in einem Kommentar für die WELT unter der Überschrift „Die Richter und die Macht“: „Verfassungsrichter, die im Kanzleramt speisen, wenn über die Corona-Politik der Bundesregierung gesprochen wird? Mit den Verhaltensregeln des Gerichts ist das nicht vereinbar. (…) Über Jahrzehnte hat Karlsruhe es geschafft, sich ein großes Vertrauenskapital bei den Bürgern aufzubauen. Das zu erhalten, muss oberste Priorität haben. Harbarths Sozialisation vom Politiker zum Richter ist offenbar noch nicht abgeschlossen. Womöglich sollte er sich im Verfahren zur Bundesnotbremse selbst aus dem Spiel nehmen.“

Inzwischen haben auch namhafte Juristen den Vorwurf der versuchten Einflussnahme durch die Bundesregierung auf die Verfassungsrichter erhoben, darunter der Staatsrechtler Kyrill-Alexander Schwarz und mit Gerhard Strate einer der bekanntesten Strafverteidiger Deutschlands, der auch Mitglied des Verfassungsrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer ist.

Das BVerfG wies das von sich und lehnte den Befangenheitsantrag trotz der erdrückenden Beweislage ab (Aktenzeichen 1BvR 781/21, Pressemitteilung vom 12. Oktober 2021). „Fehlendes Gespür“ attestierte ihm dafür Frank Bräutigam von der ARD-Rechtsredaktion in einem Kommentar für die Tagesschau: „Mich lässt dieses Treffen samt Vor- und Nachspiel mit Stirnrunzeln zurück. (…) Mich stört nicht per se, dass sich Verfassungsorgane in regelmäßigen Abständen zum Austausch treffen. Das hat eine lange Tradition. (…) Andere Dinge stören mich aber. Zum Beispiel die Auswahl der Gesprächsthemen für das turnusmäßige Treffen und wie es dazu kam. (…) Der Themenwechsel wirkt auch für Beobachter so, dass ausgerechnet zwei rechtlich sehr umstrittene Themen aktiv vorgeschlagen werden. Das ist für mich unsensibel. (…) Ich glaube auf keinen Fall, dass an diesem Abend im Kanzleramt Corona-Urteile ausgekungelt wurden. Doch dieser Termin hat dazu geführt, dass sich die Beschwerdeführer der Corona-Verfahren sowie Bürgerinnen und Bürger Fragen stellen und ins Grübeln kommen. Was machen die da genau? Worüber reden die eigentlich? (…) Ich wünsche mir deshalb für die Zukunft mehr Gespür dafür, was für ein sensibles Thema das Verhältnis von Justiz und Politik ist. Bei dem die Bürgerinnen und Bürger zu Recht genau hinschauen.“

Die Sache ist damit jedoch noch nicht abgeschlossen. „Am Freitag (22.10.21, Anm. d. Red.) reichte jener Kläger, der bereits Harbarths Befangenheit vermutete, einen neuen Antrag ein. Begründung: Dessen Richterkollegen hätten die Argumente des ersten Antrags ignoriert oder falsch verstanden“, heißt es in einem Bericht von Tim Röhn in der WELT über ein weiteres Abendessen mit CDU-Politikern und Unternehmern, bei dem Harbarth einen Vortrag hielt.

Das höchste Gericht müsse „dem Grundgesetz zu seiner Geltung verhelfen“, fordert Michael Maier in einem Kommentar für die Berliner Zeitung. „Knapp 10.000 Personen haben 281 Verfassungsbeschwerden und mehrere Anträge eingereicht. Über einige wird nun entschieden. (…) Nach Angaben des Deutschen Richterbundes gab es allein im Jahr 2020 mehr als 10.000 Gerichtsverfahren wegen Corona. (…) Der Grundsatzentscheidung aus Karlsruhe kommt eine zentrale Bedeutung zu, weil die meisten Gerichte mit der aktuellen Rechtslage überfordert sind: Gesetze und Verordnungen werden in rasch wechselnder Folge geändert. Vorschriften sind detailreich, unklar oder widersprüchlich. Es gibt große lokale und regionale Unterschiede bei Maßnahmen. Die Beweisführung ist schwierig: Soeben hat ein Strafgericht in Bayern die körperliche Untersuchung einer Beschuldigten angeordnet, die sich auf eine ärztlich ausgestellte Maskenbefreiung berief. (…) Von Stephan Harbarth und seinen Kollegen muss verlangt werden, dass sie sich als unbestechliche und unabhängige Richter erweisen. Die deutschen Gerichte warten auf einen Spruch aus Karlsruhe schon sehr, sehr lange. Die Bevölkerung ist verunsichert und frustriert. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zu lange weggeduckt. (…) Die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist die Beendigung des juristischen Ausnahmezustands, um das friedliche und freiheitliche Zusammenleben in diesem Land dauerhaft zu sichern.“

„Noch nie hat das Bundesverfassungsgericht so versagt“, meint auch Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung (SZ). Es habe „zu den Lockdowns, der Notbremse, den Ups und Downs der Beschränkungen mehr oder minder geschwiegen“ und sei nun „in einer fatalen Lage“: „Es hat nicht versagt, weil es eine falsche Entscheidung getroffen hätte. Es hat versagt, weil es bisher dazu, 19 Monate lang, keine substanzielle Entscheidung getroffen hat und weil es vor der nun bevorstehenden Entscheidung ärgerliche Fehler macht. Das Gericht verweigert sich einer mündlichen Verhandlung, es missachtet ein sensibles rechtliches Gehör, es manövriert sich in die Befangenheit. (…) Das höchste Gericht, das sich in den vergangenen Jahrzehnten allerhöchste Verdienste erworben hat, hat unter seinem neuen Präsidenten und Vorsitzenden des zuständigen Ersten Senats, dem ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten und Wirtschaftsanwalt Stephan Harbarth, Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz mit 08/15-Begründungen abgewimmelt. In der Abwimmelentscheidung zum Bundesnotbremsen-Gesetz hat es fundamentale Rechtsfragen ignoriert. (…) Seine summarischen Eilentscheidungen hat es damit begründet, dass eine Abwägung zwischen dem Lebensschutz einerseits und den Freiheitsrechten andererseits auf die Schnelle zu schwierig sei.“ Dem Treffen mit der Bundesregierung hafte „etwas von Mauschelei an“, und „mit der bloßen Behauptung, unvoreingenommen zu sein“, sei „die Besorgnis der Befangenheit nicht aus der Welt zu schaffen. Hinzu kommt, dass Präsident Harbarth sich mit wenig Zurückhaltung zu Corona geäußert hat: Die Bewältigung der Pandemie vollziehe sich ja, sagte er im FAZ-Interview, ‚in den Bahnen des Rechts‘. Genau dies zu prüfen, ist aber Aufgabe seines Gerichts.“

In die Diskussion über die Rechtmäßigkeit der deutschen Corona-Politik hat sich inzwischen auch der 92-jährige Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas eingeschaltet, wie Andreas Rosenfelder in der WELT unter der Überschrift „Die Habermas-Diktatur“ berichtet. Habermas hatte in der September-Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ den Aufsatz „Corona und der Schutz des Lebens – zur Grundrechtsdebatte in der pandemischen Ausnahmesituation“ veröffentlicht. Habermas verfolge die Hypothese, „dass der Staat gerade dann die Verfassung missachtet, wenn er nicht mit aller Konsequenz gegen Corona kämpft“. Die Politik dürfe keine Maßnahme unterlassen, wenn diese dazu geeignet sei, auch nur eine einzige Corona-Infektion zu verhindern. „Diese These ist eine Bombe“, schreibt Rosenfelder, „und dass sie noch nicht hochgegangen ist, kann man sich nur mit dem staubtrockenen, sparsam ironischen Stil erklären, für den Jürgen Habermas berühmt ist. Habermas entwirft in den „Blättern“, einst das Leitmedium der 1968er-Bewegung, nicht weniger als den totalen Corona-Staat – ein rechtliches Monstrum, das in seiner Allgewalt, wenn man Habermas beim Wort nimmt, jedes No-Covid-Regime von China bis Australien in den Schatten stellt. (…)  Wenn man voraussetzt, dass jeder Staat, den wir aus Geschichte und Gegenwart kennen, immerzu und fast überall zahllose Infektionen – und auch die daraus resultierenden Todesfälle – in Kauf nimmt, dann kommt diese Forderung einer Revolution des Staatsbegriffs gleich. (…) Die Ahnungslosigkeit, die Habermas bei der konkreten Materie seines Aufsatzes an den Tag legt, ist frappierend. So behauptet er, der ‚Kampf‘ Europas ‚gegen das Virus als gemeinsamen Gegner‘ dauere ‚bis zum Zeitpunkt der – letztlich nur durch Impfung erreichbaren – Herdenimmunität‘. Wer im September 2021 noch annimmt, eine Herdenimmunität sei durch Impfung zu erreichen, hat im Sommer wohl nicht gründlich Zeitungen gelesen – sonst hätte er davon Kenntnis nehmen können, dass die hohe Zahl von Impfdurchbrüchen in Israel, England oder den Vereinigten Staaten diese Idee längst diskreditiert hat. Leider sorgt diese grobe Fehlannahme für einen vielsagenden Kollateralschaden im Theoriegebäude: Ein pandemischer Kriegszustand, der erst mit einer durch Impfung erreichten Herdenimmunität endet, muss ewig währen.“ Andreas Rosenfelder geht mit Habermas auf brillante Weise noch weiter ins Gericht – sein Fazit am Schluss: „Jürgen Habermas, einst ein Meisterdenker der liberalen Öffentlichkeit, malt in seinem Elfenbeinturm einen Staat an die Wand, der sogar die Fantasien der teuflischsten Corona-Leugner verblassen lässt. Sein biopolitischer Leviathan kann zum Zweck der Infektionskontrolle jedwede Freiheit einschränken, immer und überall, ohne Bedingungen und ohne Maß. Wer darin nicht den Schattenriss der Diktatur erkennt, der ist wohl nicht mehr zu retten.“

Deutlich im Kontrast dazu steht die Stellungnahme eines weiteren Philosophen. In der Berliner Zeitung fordert Michael Andrick die Einrichtung eines ‚Untersuchungsausschusses Corona‘ und dessen kritische öffentliche Begleitung. Nur dadurch ließe sich die Gewaltenteilung in Deutschland rehabilitieren, denn: „Obwohl es von Anfang an fachkundige Stimmen gab, die für Deutschland auf Mäßigung und weitgehende Entwarnung drangen, wurde die deutsche Pandemiepolitik auf Angstmache und somit auf Betäubung der Reflektionsfähigkeit gebaut. Diese Politik war von Beginn an im Wortsinne unverantwortbar. (…) Wussten wir wirklich nicht, dass Kinder missbräuchlicher Eltern diesen bei Schulschließungen schutzlos ausgeliefert sind? Dass das Ausschalten der Mimik durch Masken auf Kinderseelen deprimierend wirkt? Das wussten wir, und ich war fassungslos ob dieser staatlichen Kindswohlschädigung und ihrer breiten Hinnahme als angeblich ‚notwendig‘. Wussten wir wirklich nicht, dass die Isolierung Hochbetagter auch gegen ihren Willen ein Menschenrechtsverstoß und oft lebensverkürzend ist? Wir wussten das, und ich war fassungslos ob dieser staatlichen Brutalität und ihrer breiten Hinnahme als angeblich ‚notwendig‘. Wussten wir wirklich nicht, dass der Kundenstamm vieler Freiberufler einfach weg ist nach monatelangem Berufsverbot – die wirtschaftliche Existenz vernichtet, das Lebenswerk zerstört, die Depression quasi abonniert? (…) Das alles und mehr wussten wir, niemand kann ehrlich auf Ahnungslosigkeit plädieren. Nur im Trommelfeuer der Angstpropaganda, die unser Staat bis heute auf löchrig-inkonsistenter Datengrundlage betreibt und die von den Leitmedien lange unkritisch durchgereicht wurde, konnten wir so einfache Tatschen jemals ‚vergessen‘. Nur unter der Angstglocke konnten wir nicht vor uns selbst erschrecken.“

Komme der von ihm geforderte Untersuchungsausschuss nicht, „hätten wir als Bürger eine bittere Lektion zu lernen: Wir müssten dann erkennen, in unserer aktuellen Ordnung einem Netzwerk von Parteifunktionären und regierungshörigen Leitmedien ausgeliefert zu sein. (…) Es gibt für uns kein Leben in Würde ohne diese Pflicht der Regierung, ohne diese kollektive Bemühung um Wahrhaftigkeit.“

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