Zum fünften Mal hat die große Koalition mit Zustimmung des Bundestags die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ über den 11. September hinaus bis zum 24. November verlängert. Damit kann die Bundesregierung weiterhin Verordnungen zum Infektionsschutz erlassen – direkt und ohne Zustimmung von Bundestag und Bundesrat. Gerade erst sind einige Änderungen im Infektionsschutzgesetz dazu verabschiedet worden, z. B. zum Auskunftsrecht eines Arbeitsgebers bezüglich des Impfstatus‘ seiner Mitarbeiter:innen, der Aufnahme der Hospitalisierungsrate zusätzlich zur Inzidenz als Kriterium für Corona-Maßnahmen sowie Bestimmungen für Reisen (siehe dazu den Bericht im SPIEGEL).

Die Verlängerung der „epidemischen Lage“ war in der CDU durchaus nicht unumstritten, wie die WELT berichtet. So sagte z. B. der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, Erwin Rüddel (CDU): „Aus meiner Sicht gibt es dann (wenn bis Ende September alle diejenigen, die dies wollen, geimpft wurden, Anm. d. Red.) keinen Grund mehr, die epidemische Lage, die für viele Menschen eine große Belastung darstellt, noch weiter zu verlängern.“

Die CDU-Abgeordnete Saskia Ludwig schrieb sogar eine „Persönliche Erklärung nach §31 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages“ und begründete darin, warum sie der Verlängerung des Gesetzes nicht zustimmt: „Wie oft haben wir versprochen, dass die Beschränkungen ein Ende haben? Wie oft haben wir das Einführen harter Maßnahmen, von 'Wellenbrechern', 'Lockdown lights' und 'Notbremsen' damit gerechtfertigt, dass danach zur Normalität zurückgekehrt werden kann? Wir haben versprochen, dass es keine Impfpflicht geben wird. Wir haben versprochen, dass Kinder wieder ohne Maske in die Schule gehen können. Wir haben nichts davon gehalten. (…) Vor diesen Hintergrund und als Ergebnis meiner eigenen Bewertungen kann ich diese erneute Änderung nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren und werde deshalb der Änderung des Infektionsschutzgesetzes nicht zustimmen.“

Andere Unionspolitiker meinen, angesichts der vierten Welle und der hochansteckenden Delta-Variante müsse man weiterhin rasch und flexibel reagieren können. Auch die SPD war geschlossen für eine Verlängerung. Nur die Opposition verweigerte die Zustimmung dazu, wie die WELT berichtet: „Die Voraussetzung für die Feststellung einer epidemischen Lage ist nicht mehr gegeben“, sagte z. B. die FDP-Abgeordnete Christine Aschenberg-Dugnus. „Eine Überlastung des Gesundheitssystems liegt nicht vor.“ Auch Linke, Grüne und AfD stimmten gegen die Verlängerung.

„Längst wurde das Versprechen kassiert, wenn jeder ein Impfangebot erhalten habe, gebe es keine Grundlage mehr für massive Freiheitsbeschränkungen“, schreibt Alexander Kissler in der NZZ und fordert, die epidemische Notlage müsse jetzt ein Ende haben. „Für die öffentliche Gesundheit zentral ist die Gesundheit des öffentlichen Lebens. Und Leben heißt, frei nach Erich Fromm, Unsicherheit zu tolerieren und Freiheit auszuhalten. Wer die epidemische Lage stetig weiter verlängert, zeigt nur, wie wenig er von der Freiheit hält und wie sehr er den Bürgern misstraut.“

„Die Politik ist immer noch im Panikmodus“, kommentiert Susanne Gaschke in der WELT. Unter Bezug auf Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der anlässlich des 60. Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 2021 gesagt hatte, Freiheit und Demokratie seien nicht naturgegeben, sondern müssten erkämpft, dann aber auch geschützt, verteidigt und erhalten werden, schreibt Susanne Gaschke: „Es wäre großartig, wenn Steinmeier solche Wahrheiten nicht nur zu historischen Jahrestagen verkünden, sondern auch gelegentlich auf unsere aktuelle Verfassungswirklichkeit anwenden würde. Die ist nämlich surreal.“ Schon seit Monaten existiere keine der Voraussetzungen mehr die Einschränkungen aufgrund der epidemischen Lage nationaler Tragweite. „Freiwillig Ungeimpfte müssen ihr Risiko selbst einschätzen – wie alle mündigen Bürgerinnen und Bürger in vielen anderen Situationen auch. Der Staat kann und darf nicht jedes Lebensrisiko ausmerzen, wenn er nicht total Kontrolle ausüben will. Doch die Bundesregierung hält fest an einer Politik der Panikmache (4. Welle!), der Verbote und Beschränkungen, der verfassungswidrigen Suspendierung von Grundrechten auf Vorrat.“

Dass es längst nicht nur „Querdenker“ sind, die einer Impfung skeptisch gegenüberstehen, sondern dass für viele ganz normale Bürger:innen aus unterschiedlichen Gründen viele Fragen weiterhin offen sind, zeigt ein Artikel in der Berliner Zeitung: „Zu viele Fragen: Outing einer Nicht-Geimpften“. Aufgrund einer ganzen Tirade von Tweets, die die Aussagen im Artikel anzweifelten, hat die BZ den Artikel wieder vom Netz genommen (er ist nur über Umwege noch einzusehen). „Die Grenzen des Fragbaren haben sich rasant verschoben: Eine Frage, die früher nicht gestellt wurde, weil sie in den Bereich des Privaten, Höchstpersönlichen gehörte, fällt seit einigen Monaten einer gesellschaftlichen Maschinerie anheim, die schonungslos den Offenbarungseid verlangt“, schreibt die Autorin und bezieht sich auf die allgegenwärtige Frage: „Sind Sie geimpft?“ Das „hohe Lied der Impfung“ werde als „einzig denkbares Heilsversprechen (urbi et orbi)“ gesungen: „Menschen wie mich, die nicht verschworen sind und Corona nicht leugnen und sich dennoch nicht sofort und mit Begeisterung impfen lassen, gibt es offiziell in unserem Land nicht. Bestenfalls gelte ich als jemand, der bisher zu faul war, der nur mal seine Trägheit bzw. seinen ‚inneren Schweinehund‘, wie Robert Habeck sich ausdrückte, überwinden muss, um zur einzig richtigen und einzig akzeptablen Tat zu schreiten. Dass ich – nach gründlichem und immer neuem Nachdenken – sehr viele gut begründete Vorbehalte in mir habe, kommt in der medialen und politischen Berichterstattung über ‚Impfverweigerer‘ wie mich nicht vor. (…) Ich glaube, mit gutem Gewissen behaupten zu können, dass ich recht gut Bescheid weiß. Je mehr ich höre und je mehr ich lese, desto rätselhafter wird in meinen Augen das derzeitige Geschehen. Wie kann es etwa sein, dass die Veröffentlichung eines Wissenschaftlers oder einer Wissenschaftlerin in einer weltweit angesehenen medizinischen Fachzeitschrift in der öffentlichen Diskussion so gar nicht auftaucht? (…) Da haben sich anerkannte Fachleute sehr mutig und engagiert mit der unbestreitbaren Tatsache auseinandergesetzt, dass niemand weiß, auf welche Weise unser Körper aufgrund seiner ungeheuren Komplexität auf im Labor hergestellte, künstliche RNA reagieren könnte. (…) Wenn ich mich einfach impfen lassen würde, hier und jetzt, würde ich mir eine Menge Stress ersparen. Wenn ich mich weniger fundiert informiert hätte, wäre es vielleicht dazu gekommen. Ich habe mich informiert, weil ich mich von Corona weniger bedroht gefühlt habe als von einem neuen, rasend schnell entwickelten gentechnologischen Impfstoff.“

„Die Balance von Freiheit und Gesundheitsschutz gerät ins Wanken“, meint Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) in einem Gastbeitrag für die WELT. An die Stelle einer gründlichen Prüfung, ob überhaupt noch eine epidemische Lage nationaler Tragweite bestehe, rücke „eine Erwägung praktisch-administrativer Art“: „Welche Maßnahmen, die auf hunderten Seiten von Corona-Verordnungen der Länder fein säuberlich aufgegliedert sind, können wir aufrechterhalten, wenn der Bundestag dafür die Grundlage entzieht? Die Antwort lautet: nahezu keine. Ohne Rechtsgrundlage sind die zahlreichen Pflichten, Verbote und Verhaltensregeln, also die „erprobten Instrumente“, weitgehend Makulatur.“ Als Voraussetzung für die Verlängerung gelte, dass ein „dynamische Ausbreitung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit über mehrere Länder in der Bundesrepublik Deutschland“ drohe oder stattfinde: „Ob angesichts des Impffortschritts und des vorhandenen Impfangebotes eine solche Situation gegeben ist, darf man als strittig bezeichnen.“ Es spreche mehr gegen eine Verlängerung als dafür. Selbst Christian Drosten, der nun wahrlich nicht als Corona-Verharmloser durchgehe, habe in seinem Podcast vorgerechnet, „dass eine Corona-Infektion für Menschen unter 45 ungefähr so gefährlich ist wie eine Infektion mit der Influenza.“ Da die Älteren fast alle durch die Impfung geschützt seien, stelle sich die Frage: „Wenn das Risiko der Influenza nie in der Geschichte der Republik Anlass war, über eine epidemische Lage nationaler Tragweite auch nur zu diskutieren, warum sollte es jetzt angesichts eines durch die Impfungen auf ein vergleichbares Maß reduzierten Risikos ganz anders sein?“ Wenn die Risikogruppen weitgehend geimpft sind, sei eine Überlastung des Gesundheitssystems mit heutiger Erkenntnis nicht zu erwarten. Er halte den Weg, den Deutschland geht, „für bedenklich“, schreibt Palmer: „Es fehlt an der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen. Schon beim heutigen Impfstand ist Corona nicht mehr wesentlich gefährlicher für das Gesundheitssystem als eine heftige Influenzawelle im Winter. Wenn der Staat zu völlig neuartigen Maßnahmen greift und sich im Vergleich mit anderen Risiken keine guten Gründe mehr dafür finden lassen, ist das gefährlich für die freiheitliche Grundordnung, in der wir leben. Ein Staat, der so weitgehende Freiheitseingriffe vornimmt, ohne dafür eine überzeugende Begründung vorzulegen, könnte auf eine schiefe Ebene geraten.“

Diese Forderungen scheinen umso berechtigter, als das europäische Ausland teilweise ganz andere Wege geht. Dänemark zum Beispiel hob am 3. September sämtliche Coronabeschränkungen auf, wie der SPIEGEL berichtet: „Schon jetzt dürfen die Dänen ohne Maske wieder Bahn fahren und ungetestet in Cafés sitzen. Corona gilt nicht länger als ‚für die Gesellschaft kritische Krankheit.‘ Große Menschenansammlungen und Veranstaltungen ohne Auflagen sind ab diesem Zeitpunkt kein Problem mehr. Klubs und Fußballstadien dürfen wie früher öffnen, der ‚Coronapass‘ genannte Impfausweis muss nirgendwo mehr vorgezeigt werden. Selbst bei steigenden Zahlen soll es nicht mehr automatisch zu neuen Einschränkungen kommen. Die Pandemie gilt in Dänemark damit faktisch als beendet.“ Hintergrund für diese Maßnahmen ist, dass in unserem nördlichen Nachbarland mehr als 80 Prozent der Bevölkerung über 12 Jahren inzwischen doppelt geimpft sind. Trotz der bereits seit Monaten bestehenden Lockerungen (schon im Juni fiel die Maskenpflicht) sind die Infektionszahlen nicht höher als anderswo. In dänischen Schulen sind Tests und Schließungen nur noch bei größeren Ausbrüchen geplant. Wenn einzelne Kinder positiv getestet werden, kann der Großteil der Mitschüler:innen dennoch weiterhin normal unterrichtet werden.

Auch auf den Kanarischen Inseln hat der Oberste Gerichtshof die Einschränkungen für Ungeimpfte und die 3G-Regeln aufgehoben, wie tkp.at berichtet. Trotz des guten Willens, der dem Erlass zugrunde liegen mag, berge die Anordnung das Risiko, „dass eine unbestimmte Anzahl von Bürgern von allen Möglichkeiten, die ihnen ihre verfassungsmäßig verankerte Freiheit bietet, ausgeschlossen wird, und zwar aufgrund der bloßen Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, was rechtmäßig ist, da die Impfung gegen Covid-19 freiwillig ist.“

Und in Spanien verbot der Oberste Gerichtshof in Madrid die Einführung eines „Covid-Passports“ und bestätigte damit ein entsprechendes Urteil des höchsten Gerichts in Andalusien, wie die WELT berichtet. Eine Impfung oder einen Test für den Besuch einer Bar verpflichtend zu machen, sei „diskriminierend und verletze die Privatsphäre der Spanier“. Im Hinblick auf die epidemiologische Lage sei es „nicht verhältnismäßig, für eine gesamte Region eine solche Regel zu verhängen. Dabei hat Spanien sogar weniger als Drittel so viele Intensivbetten pro Kopf als Deutschland. Schon im Juni wurde auch in Spanien die Maskenpflicht im Freien abgeschafft. Eine direkte oder indirekte Impfpflicht gibt es nicht, die Quoten sind trotzdem hoch.

Dagegen malt Christian Drosten hierzulande bereits den nächsten Lockdown an die Wand: „Mit dieser Impfquote können wir nicht in den Herbst gehen“, sagte er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. „Wir werden gegen Anfang Oktober eine 10-prozentige Kontaktreduzierung und gegen Anfang November eine 30-prozentige nochmalige Kontaktreduktion brauchen, angesichts der erwartbaren Lage in den Krankenhäusern. Damit rechne ich fest. Damit rechnet auch das RKI fest. Auch im Coronavirus-Update auf NDR info vom 3. September bekräftigte Drosten seine Forderung nach einer höheren Durchimpfungsrate: Wir müssen unbedingt gesamtgesellschaftlich an der Impfquote arbeiten.“ Man könne sich „aus der Pandemie herausimpfen“. Die aktuelle Impfquote von über 60 Prozent reiche dafür aber nicht aus. Deshalb gehe er davon aus, dass die Politik die Kontaktmaßnahmen im Herbst wieder verschärfen wird. Sein eigenes, persönliches Ziel sei: „Ich will eine Impfimmunität haben und darauf aufsattelnd will ich dann aber durchaus meine erste Allgemeininfektion und die zweite und auch die dritte haben. Dann weiß ich, bin ich langhaltig belastbar immun und werde nur noch alle paar Jahre überhaupt mal dieses Virus sehen.“

Andere Wissenschaftler, z. B. der Direktor des Hygienezentrums Bioscientia, Dr. Georg-Christian Zinn, sehen das eher kritisch: „Wir haben dazu noch keine Studien. Man weiß aus der Vergangenheit, dass eine Infektion auf eine Impfung drauf meistens unbewusst zu einer Boosterung der Antikörperbildung führt“, sagte er RTL. Dass man das bewusst mache, sei „eher unüblich“. Man habe dazu keine Daten. Stattdessen solle man lieber eine Auffrischimpfung machen.

Im Frühjahr sollte die Pandemie ohnehin vorbei sein, sagt Virologe Klaus Stöhr in einem Interview mit dem Merkur: „Ab dem Frühjahr werden wir eine dramatische Entspannung der Situation erleben. Die Pandemie ist dann vorbei. Im Sommer wird trotz einiger Infektionen wieder absoluter Normalzustand herrschen. Vor dem Winter 2022 wird sich dann die Frage stellen, ob man die über 60-Jährigen noch einmal impfen muss. Alle anderen werden sehr wahrscheinlich keine weitere Impfung mehr brauchen.“

Inzwischen hat auch die Arbeitsgruppe um Matthias Schrappe ihr 8. Thesenpapier vorgelegt. Es beschäftigt sich mit der Pandemie als komplexes System, mit der Steuerung der Epidemie durch Indikatoren-Sets, mit Kindern und Jugendlichen in der Corona-Pandemie und mit der Politik und Demokratie unter Pandemie-Bedingungen. Bund und Länder kommen darin nicht gut weg: „Es fehlt jegliche Perspektive für die Bevölkerung, es fehlt jegliche Perspektive für die Mitarbeiter im Gesundheitswesen, und die Schäden für das demokratische System sind unabsehbar.“ Vor allem mit den Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen gehen die Wissenschaftler schwer ins Gericht: „Die besonderen Hygienemaßnahmen in Kindergärten und Schulen (Reihentestungen, Quarantäne, Maskenpflicht) entbehren der wissenschaftlichen Evidenz und sind hinsichtlich der Risiko-, Aufwand- und Nutzenbewertung weder geeignet noch verhältnismäßig. Gleiches gilt für mobile Luftreinigungsgeräte. Dass der auf den Jugendlichen lastende psychosoziale Druck durch die neue Impfempfehlung geringer wird, muss bezweifelt werden. Der Druck wird nämlich nicht durch eine Infektion hervorgerufen, die in aller Regel mild verläuft, sondern durch eine Politik, die den Lebensalltag der Heranwachsenden in einem unverhältnismäßigen Ausmaß einschränkt.“ In der Rolle der Patienten im Behandlungssystem habe sich in der Corona-Epidemie wieder „auf der ganzen Linie ein autoritär-paternalistisches Verständnis durchgesetzt“. Die „für die Organisationen des Gesundheitswesens typische Form der Expertenorganisation wurde zu klassischen hierarchischen Strukturen rückentwickelt.“ Fazit: In der Summe dränge sich „der Eindruck eines ‚Großen Zurück‘ auf: Lineare, hierarchische, gut messbar-biologistische, ins Paternalistische reichende, letztlich einfache Erklärungs- und Steuerungsansätze haben komplexe Sichtweisen und Handlungsansätze überrollt, obwohl gerade diese die Kompetenz einer entwickelten Gesellschaft repräsentieren.“

So wundert der Kommentar des Autors Tim Röhn nicht sonderlich: „Ich erkenne Deutschland nicht wieder“ schreibt er in einem Gastbeitrag für die WELT: Jede „noch so abstruse Maßnahme“ werde „schulterzuckend hingenommen“. „Wo sind die Reportagen vom Lungenkrebstod in deutschen Kliniken, die vom Sterben an Krankenhauskeimen? Rauchen und Alkohol – müsste man beides nicht konsequenterweise verbieten, damit jene, die deswegen krank werden, nicht irgendein freies Bett blockieren, das andernfalls ein Asket belegen könnte? (…) Wie lange will das Bundesverfassungsgericht eigentlich noch darüber beraten, ob diese Maßnahme (die Ausgangssperre, d. Red.) als Teil der „Bundesnotbremse“ nun angemessen war oder nicht? (…) Wann wurde es politisch korrekt, wegen Covid-19 in Panik zu verfallen und alle Restriktionen der Politik gutzuheißen? Warum ist es plötzlich so in Mode, den Mächtigen jedes Wort zu glauben? Was ist falsch daran, Lockdowns zu kritisieren? (…) Warum ist es verpönt, in der Debatte auf Schweden zu verweisen? Es gab keinen Lockdown in Schweden – und die Zahlen sind trotzdem besser als im EU-Durchschnitt. Und die Regierung – jetzt wird es ganz bitter für die Lagerdenker – ist nicht einmal rechts, sondern sozialdemokratisch. Der schwedische Weg, mittlerweile auch der Schweizer, der niederländische, der belgische und der britische – sie alle zeichnen sich dadurch aus, dass intensiv für die Rückkehr zur Normalität gekämpft wird. Währenddessen werden bei uns immer weitere drastische Ideen diskutiert. (…) Ich sehe vor allem die ‚German Angst‘ und den tiefen Wunsch, von Vater Staat immer neue Anweisungen zur Bewältigung der als hochdramatisch bewerteten Lage zu bekommen.“

Derselbe Autor hat noch ein weiteres heißes Eisen angepackt: „Der leise Zweifel impfender Ärzte“ hat er seine Recherche für die WELT über Ärzt:innen überschrieben, die Zweifel an der Sicherheit der Impfungen äußern. Die meisten ziehen ihre Statements rasch wieder zurück, löschen Beiträge auf Twitter oder anderen Medien. So berichtet Röhn über einen Arzt, der sich entschieden hat, in seiner Praxis nicht mehr zu impfen, weil er zu viele Nebenwirkungen gesehen hat: „Fieber, Schmerzen, Übelkeit, Hautausschläge, Lymphknotenschwellungen, Gefühlsstörungen, Autoimmunerkrankungen“. Röhn zitiert in diesem Zusammenhang Olaf Scholz, der für die Impfung mit den Worten warb: „50 Millionen sind jetzt zweimal geimpft. Wir waren ja alle die Versuchskaninchen für diejenigen, die bisher abgewartet haben. Deshalb sage ich als einer dieser 50 Millionen: Es ist gut gegangen! Bitte macht mit!“ (siehe dazu auch den Bericht in der BZ). Versuchskaninchen also. Das heißt ja aber doch: Nichts Genaues weiß man nicht über diese Impfstoffe, sonst wäre man ja kein „Versuchskaninchen“. Dieses Statement und auch die Impf-Verweigerung des Arztes (und er ist nicht der einzige im Land) offenbaren, so Röhn, „die angeschlagene Psyche eines hochnervösen Landes, das sich gespalten hat – in bewusst Geimpfte und bewusst Ungeimpfte.“ Röhn hat mit mehreren Ärzt:innen gesprochen, die sich ihrer ärztlichen Ethik verpflichtet fühlen („Primum non nocere“ – zuerst einmal nicht schaden) und deshalb aus dem Impfen ausgestiegen sind. Es sind Äußerungen, die man nicht einfach abtun kann. Gustavo Baretton, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Pathologie, sagte, wie die Tim Röhn berichtet, er habe „schon im Frühjahr Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) schriftlich gebeten, mehr finanzielle Mittel für die Obduktion Impfgeschädigter zur Verfügung zu stellen. Er habe keine Antwort erhalten. ‚Wir haben keine gute Datenlage‘, sagt Baretton. Das Ministerium müsste einen anderen Drive haben.“

Ob das Gesundheitsministerium unter einer neuen Regierung einen anderen „Drive“ hat, sei dahingestellt. Mit den heißesten Anwärtern auf diesen Posten – Karl Lauterbach (SPD) oder Janosch Dahmen (Grüne) – wird das sicher nicht der Fall sein. Sie gelten in Sachen Corona als absolute Hardliner.

Die Corona-Politik spielt im Wahlkampf bisher allerdings kaum eine Rolle. Was rund 100 namhafte Ärzt:innen, Jurist:innen, Wissenschaftler:innen und Unternehmer:innen (darunter der Medizinstatistiker Gerd Antes, Epidemiologe und Virologe Klaus Stöhr, WDR-Moderator Jörg Thadeusz, Rechtsanwalt Niko Härting, ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof Stefan Leupertz, Musikproduzent Paul van Dyk, Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, Gesundheitsökonom Gerd Glaeske) dazu veranlasst hat, einen Offenen Brief an die Parteivorsitzenden von CDU/CSU, SPD, FDP, Linke und Bündnis 90/Die Grünen zu publizieren. Darin heißt es: „Kurz vor der Bundestagswahl gewinnen wir den Eindruck, dass Corona im Wahlkampf kein Thema ist. In den Parteiprogrammen vermissen wir Konkretes. Als Wählerinnen und Wähler dürfen wir von den Parteien Konzepte für die zukünftige Corona-Politik einer Bundesregierung erwarten. (…) Wir erwarten von den Parteien Antworten auf die drängendsten Fragen der Corona-Politik (Wahlprüfsteine).“ Und dann folgt eine Aufzählung von wichtigen Stichworten: Expertenrat, Institutionen (STIKO, RKI), Enquetekommission (zur Untersuchung der Versäumnisse), Politik nach Inzidenzen, Stufenplan, Entschädigung, Kultur, Bürgerrechte …

Natürlich haben die großen Medien darüber nicht berichtet. Neben dem Focus kam lediglich die Berliner Zeitung ihrer Chronistenpflicht nach und veröffentlichte den Offenen Brief im Wortlaut. 

zurück zur Übersicht