Mit einem in rasantem Tempo durch die vorgeschriebenen drei Lesungen gepeitschten Gesetz hat der Bundestag am 10. Dezember 2021 eine Impfpflicht für alle Beschäftigten in medizinischen und sozialen Einrichtungen beschlossen. Viele dort Tätige haben schon anklingen lassen, dass sie sich einem solchen Zwang nicht beugen und lieber kündigen werden. Wohin das führt, zeigen die Beispiele Italien und USA, wo bereits eine Impfpflicht für die medizinischen Berufe eingeführt wurde. Inzwischen wird das medizinische Personal händeringend gebeten zurückzukommen, auch ungeimpft. „Amerikas Kliniken droht der Ärzte-Exodus – Impfpflicht aufgehoben“, schreibt die WELT. Und der österreichische Kurier meldet: „Italien: Ruf nach Rückkehr ungeimpften Personals wird lauter.“

Der Verein „Ärztinnen und Ärzte für individuelle Impfentscheidung e. V.“ hat eine Unterschriften-Aktion gestartet, mit der die in medizinischen und sozialen Einrichtungen Tätigen ausdrücken können, dass sie dieses Gesetz ablehnen. Denn, so der Verein: „Dieses Gesetz mit dem darin vorgesehenen gravierenden Eingriff in unser Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ist wissenschaftlich weder begründet noch gerechtfertigt.“

Schon jetzt ist klar, dass es bei einer Impfpflicht für bestimmte Berufe nicht bleiben soll, sondern dass die gesamte Bevölkerung gezwungen werden soll, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen. Diese allgemeine Impfpflicht stört vielerorts auf Kritik und Ablehnung. „Es steht nicht zum Besten um die Freiheit in Deutschland“, meint der ehemalige Präsident des BVerfG, Hans-Jürgen Papier in einem Interview mit t-online.de. „Als Verfassungsrechtler kann ich nur darauf hinweisen, dass eine allgemeine Impfpflicht erheblich in das Grundrecht des Artikel 2, Absatz 2 des Grundgesetzes [„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“, d. Red.] eingreifen würde, was nur unter engen Voraussetzungen zulässig sein kann. (…) Zum Recht auf ‚körperliche Unversehrtheit‘ gehört das körperliche Selbstbestimmungsrecht. Anders ausgedrückt: Jeder kann frei entscheiden, ob er sich therapeutischen oder sonstigen Maßnahmen wie etwa einer Impfung unterzieht, die seinem Schutz oder Wohl dienen. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang einmal von der ‚Freiheit zur Krankheit‘ gesprochen. Ich sage nicht, dass eine Corona-Impfpflicht von vornherein verfassungswidrig sein muss. Es muss aber genau geprüft werden, welchem Zweck sie dient. (…) Wie wollen Sie denn gegebenenfalls über 20 Millionen Personen zu mehrfachen Impfungen zwingen, die nicht geimpft werden wollen und die keiner Behörde namentlich bekannt sind? Mithilfe der Polizei? Mit Bußgeldern und Erzwingungshaft? Davon abgesehen würde eine solche Maßnahmen das Vertrauen der Menschen in die Politik kaum stärken. (…) Mit der Impfpflicht setzt die Politik schlichtweg auf das Prinzip Hoffnung.“

Eine allgemeine Impfpflicht, so Frauke Rostalski, Professorin für Strafrecht in Köln und Mitglied im Deutschen Ethikrat, in einem Gastbeitrag für die WELT, sei verfassungswidrig und weder erforderlich noch angemessen. „Die heute bereits zu beobachtende gesellschaftliche Spaltung würde eine neue Qualität annehmen. Das Vertrauen in die politischen Entscheidungsträger, die lange Zeit nahezu ausnahmslos eine allgemeine Impfpflicht ausgeschlossen haben, wäre empfindlich gestört. Für eine erfolgreiche Pandemie-Bekämpfung ist all dies Gift.“

Viel Aufsehen erregt hat der Vorstoß von über 30 FDP-Abgeordneten, die sich in einem Antragsentwurf gegen eine Impfpflicht positioniert haben, allen voran Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Kubicki. Sie fordern anstelle der Impfpflicht mehr Aufklärung und niedrigschwellige Angebote, wie tagesschau.de berichtet.

An der Impfpflicht „geht die freiheitliche Gesellschaft zugrunde“, sagt Kubicki in einem Interview mit der ZEIT. „Ich bin gegen eine allgemeine Impfpflicht, weil es meinem ganzen Menschenbild widerspricht. Und weil wir mittlerweile die Gewissheit haben, dass auch Geimpfte ansteckend sind. Für mich wäre 1G der bessere Weg. Also dass wirklich alle, die beispielsweise in ein Krankenhaus oder Pflegeheim kommen, getestet sein müssen.“ Die Zustimmung zur Impfpflicht im Gesundheits- und Pflegebereich sei ihm „so schwergefallen wie noch nie im Bundestag“. Deshalb habe er mit einer persönlichen Erklärung deutlich gemacht: „Damit ist für mich die Grenze des Zumutbaren, was die Impfpflicht angeht, erreicht.“

Schon die 2G-Regel sei eine Impfpflicht durch die Hintertür: „Es gibt eine Verfassungsgerichtsentscheidung, die feststellte, dass zum menschenwürdigen Existenzminimum ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben gehört. Das ist bei 2G nicht mehr gewährleistet für Ungeimpfte. (…) Ich bin entsetzt über das jakobinerhafte Verhalten vieler in diesem Land, deren Freude an 2G und Impfpflicht ja nicht mehr rational ist. Vielen Impfpflichtbefürwortern scheint es um Rache und Vergeltung zu gehen. Rache an den Ungeimpften, weil man glaubt, in ihnen die Verantwortlichen für unsere derzeitige Misere ausgemacht zu haben, was natürlich völliger Unsinn ist. (…) Ich möchte nicht, dass China unser Vorbild wird. Dass wir die Leute einteilen in Gut und Böse und ihnen ihre Freiheiten nehmen, wenn sie sich nicht so verhalten, wie die vermeintliche Mehrheit es erwartet.“

Im Hinblick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Bundesnotbremse könne er „nicht nachvollziehen, dass es bei Grundrechtseingriffen nun im Prinzip eine Beweislastumkehr gibt. Nach dem Motto: Es ist in der Pandemie erstmal alles an Maßnahmen erlaubt, was nicht von vornherein erwiesenermaßen unwirksam ist. Das ist schon bemerkenswert.“ Es könne „nicht sein, dass wir den jetzigen Zustand zum Dauerzustand machen. Dass wir da nie rauskommen, nur weil immer etwas Neues, Schlimmes kommen kann. Das halten wir als Gesellschaft auch psychisch nicht aus, das bringt uns an den Rand der Verzweiflung. Es ist einfach kein glückliches Leben, wenn ich mich nicht mehr raus traue, weil ich in jedem Menschen nur noch den potenziellen Infektionsträger sehe, der mein Leben bedroht. Daran geht die freiheitliche Gesellschaft zugrunde.“

In einem Gastbeitrag für die WELT unter der Überschrift „Wir sind in einer kritischen Phase unseres freiheitlichen Rechtsstaats“ führt Kubicki seine Position noch weiter aus: Wir müssen beherzt über Freiheit sprechen. In den vergangenen zwei Jahren waren die Freiheitseingriffe stark, die Begründungen der Exekutive schwach. Hier muss es definitiv einen Paradigmenwechsel geben. (…) Ungeimpft sein ist in Deutschland kein Verbrechen, aktuell nicht einmal eine Ordnungswidrigkeit. (…) In der Pandemie dürfen wir mitansehen, dass die Würde des Menschen offenbar doch relativierbar ist. Die Bund-Länder-Runde von Anfang Dezember – damals noch mit Kanzlerin Merkel – entschied mit den Stimmen von immerhin 17 obersten Repräsentanten von Verfassungsorganen, dass die gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe von Ungeimpften auch bei einer Nullinzidenz (!) keine Rolle mehr spielen soll. Gaststätten, Kino, Theater oder Einzelhandel – all dies ist von nun an Ungeimpften-freie Zone, ohne zeitliche Begrenzung. Der im Beschluss ausgerufene ‚Akt der nationalen Solidarität‘ war alles, nur nicht solidarisch. Er war darauf ausgelegt, Menschen für die Impfung zu belohnen, die anderen zu erziehen. Er war, nimmt man die Definition des Verfassungsgerichts, unmenschlich, weil er Menschen eine grundlegende Teilhabe verwehrt. (…) Wer heute erklärt, die eigentliche Freiheit sei die Freiheit, sich kollektiv einem bestimmten Ziel zu unterwerfen, hat Freiheit nie verstanden. Freiheit ist kein kollektiver Wert, denn im Kollektiv ist die Selbstbestimmung eingegrenzt. Sie ist deshalb immer ein individueller Wert. Und in der Abwägungsentscheidung gilt für mich auch heute noch: ‚Im Zweifel für die Freiheit‘. Auch in der Pandemie.“

Der Konter ließ nicht lange auf sich warten. CSU-Generalsekretär Markus Blume bezeichnete Kubickis Vorstoß in einem Tweet als „Blindflug“ und „brandgefährlich“: „Wann kümmert sich Olaf Scholz um die Corona-Verharmloser in der Ampel?“ Und Markus Söder legte bei einer Online-Pressekonferenz nach, wie die WELT berichtet: „Was Kubicki sagt, geht in die Rechtsaußen-Ecke.“ FDP-Chef Lindner müsse ihm Einhalt gebieten, sein Verhalten sei schädlich für die Liberalen in Deutschland. „Das einfachste wäre, man würde die epidemische Lage wieder herstellen, weil dann muss man nicht über jede einzelne Maßnahme streiten oder nachdenken, dann könnte Deutschland schneller reagieren.“

Mittlerweile hat sich der Deutsche Ethikrat positioniert und sich in einer Ad hoc Empfehlung "Ethische Orientierung zur Frage einer allgemeinen gesetzlichen Impfpflicht" mehrheitlich für eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen. Dass dieses Votum jedoch keineswegs einstimmig, sondern mit vier Gegenstimmen bei keinen Enthaltungen erfolgte, wird gut versteckt: in Fußnote 28. 

Weit über 380 Ärzt:innen und Wissenschaftler:innen haben einen Offenen Brief an den Bundeskanzler, die Gesundheitsminister von Bund und Ländern, den Deutschen Ethikrat, die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien, die Bundesärztekammer, die Kassenärztliche Bundesvereinigung und verschiedene Medien verschickt. Sie wenden sich damit gegen den Impfdruck, der auf die Bevölkerung ausgeübt wird: „Mit großer Sorge nehmen wir wahr, dass unsere Gesellschaft in gegen-Covid-Geimpfte und Ungeimpfte gespalten wird und dass auf Ungeimpfte ein wachsender Druck ausgeübt wird, sich impfen zu lassen. Wir fordern die Regierung auf, dieser Spaltung Einhalt zu gebieten und alle direkten und indirekten Zwangsmaßnahmen mit dem Ziel einer Impfung von bisher Ungeimpften nicht nur einzustellen, sondern aktiv zu unterbinden.“

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