Mit der selbstorganisierten Station beginnt eine Initiative am Klinikum Aschaffenurg-Alzenau soeben mit der Gründung einer neuen Krankenhausstation. Die Klinik versucht damit mit den Ideen der „New Work Medizin“ ganz neue Wege zu gehen. Hubertus Schmitz-Winnenthal, Chefarzt der dortigen Chirurgischen Klinik hat dort eine Projektstation inspiriert, die durch ein interdisziplinäres Team neu gedacht und gestaltet werden kann: 44 Betten durch ein 40 Köpfe starkes Team. In einer gemeinsam organisierten Ausbildungsphase ab Oktober 2022 soll gemeinsam projektiert werden.*

Initiativen, wie diese, geben Hoffnung in einer Zeit, in der deutsche Kliniken geprägt sind von Unterbesetzung und Überlastung. Das Schwarzbuch Krankenhaus mit Erfahrungsberichten von Pflegenden aus deutschen Krankenhäusern hat die Spitze eines Eisberges sichtbar gemacht: Menschenunwürdige Bedingungen in einem Gesundheitssystem hierzulande, was man gern als eines der besten in der Welt zur Schau stellt. Hier wird anonym darüber berichtet, wie im wahrsten Sinne todbringend der Mangel an Mitarbeitern in den Krankenhäusern sich auswirken kann. Jetzt plötzlich geht es um Qualität. Die Pflegenden können seit langem nicht mehr. Vielleicht ist es der Beginn von etwas Neuem. Wenig wurde bekannt über die wochenlangen Streiks in den nordrhein-westfälischen Universitätskliniken. Und manchmal kommt Veränderung eher im Stillen daher: Die Pflegenden haben sich aufgerafft zu einem allfälligen Protest gegen unmenschliche Arbeitsbedingungen und haben – fürs erste – einen Punkt gemacht.

Der sog. Entlastungstarifvertrag für Mitarbeitende der Pflege in Nordrhein-Westfalen hat eine wegweisende Bedeutung: Die Menschen in der Pflege stritten nicht um Geld, sondern um ihre Arbeitsbedingungen, Bedingungen, unter denen sie Kranke gut versorgen können. 11 Wochen hatten sie gestreikt und über 25 Verhandlungstage hinweg darum gerungen endlich ernst genommen zu werden. Der Tarifvertrag startet Anfang 2023 und beinhaltet verschiedene Modelle, die die Beschäftigtengruppen im Klinikalltag wirksam entlasten. Für weite Teile der Pflege inklusive der psychiatrischen Stationen und der Notaufnahmen wird schichtgenau das Zahlenverhältnis von Beschäftigten und Patient*innen festgelegt. Wird diese Quote unterschritten oder kommt es zu anderweitig belastenden Situationen, erhalten die Betroffenen Belastungspunkte. Für jeweils sieben Punkte wird ihnen ein zusätzlicher freier Tag als Belastungsausgleich gewährt. Im ersten Jahr der Umsetzung können bis zu elf freie Tage zusammenkommen. Im zweiten Jahr sind es 14 und ab dem dritten Jahr maximal 18 zusätzliche freie Tage.

Ja, ohne knallharte Rahmenbedingungen, so wie sie hier erstritten worden sind, wird es zukünftig kaum gehen. Zu lange haben Pflegende kooperiert und still hingenommen, was man ihnen zugemutet hat. Zwischen 2002 und 2006, nach Einführung der Fallpauschalen in den Krankenhäusern, waren 33.000 Vollzeitstellen in der Pflege abgebaut, im ärztlichen Bereich 46.000 Stellen aufgebaut worden. Der Gesundheitssystemforscher Michael Simon geht davon aus, dass in deutschen Allgemeinkrankenhäusern aktuell gut 100.000 Vollzeitstellen in der Pflege fehlen. Würde man die Personalbesetzung im Pflegedienst deutscher Krankenhäuser auf das Niveau anheben, das die Schweiz oder Dänemark pro 1000 Einwohner schon haben, müssten sogar zwischen 160.000 und 260.000 Vollzeitkräfte zusätzlich eingestellt werden.

Gerhard Kienle, der Gründer des Herdecker Gemeinschaftskrankenhauses, hat immer wieder betont, dass Medizin immer eine persönliche Hilfeleistung ist. Das steht in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu dem, was im Gesundheitssystem vergütet wird: Immer da, wo menschliche Beziehungen näher ins Spiel kommen, wird eingespart, wo es geht. Beispielhaft drückt sich das aus in den vielfach höheren Vergütungen für Ärztinnen und Ärzte, die kaum oder gar keinen Patientenkontakt haben (Labormediziner:innen, Radiolog:innen…) gegenüber denjenigen, die immer nah am Patienten arbeiten (Psychotherapeut:innen, Psychiater:innen, Kinderärzt:innen). Ja, die sog. „Personalkosten“ sind für Geschäftsführungen das eigentliche Übel in ihren Kalkulationen. Mit „persönlicher Hilfeleistung“ allein lässt sich kein Geld verdienen. Das Drama in der Pflege musste erst so weit gehen, dass Menschen sterben aufgrund von mangelnder Versorgung in Krankenhäusern. Auch das gibt es bereits länger, aber Pflegende haben sich endlich getraut es zu benennen. Viele der Pflegenden allerdings haben sich aufgrund ihrer Erfahrungen bereits aus ihrem Beruf zurückgezogen. So leicht werden sie kaum zurückzugewinnen sein. Das, was hier ein erster Anfang ist, wird erst nachhaltig wirken können, wenn die Pflegenden merken, dass sie sich wirksam als Helfende erleben können. Dazu wird es Veränderungen bedürfen, die tief eingreifen in die bisherigen Logiken von Arbeit und Vergütung. 

*Übrigens werden in Aschaffenburg noch Mitarbeiter:innen in der Pflege gesucht. Im Januar 2023 soll es los gehen. Sind Sie mit dabei? Weiteres unter: https://www.klinikum-ab-alz.de/meine-station

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