Februar 2023 - Sind die Fettwerte im Blut erhöht, nimmt man auch ein erhöhtes Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte an. In dem Fall kommen sogenannte Statine zum Einsatz, die als Medikamente Einfluss nehmen auf den Spiegel bestimmter Fettwerte im Blut. Neue Leitlinien in Großbritannien schlagen nun vor, demnächst cholesterinsenkende Statine allen Erwachsenen zu verschreiben, wenn „die Person bereit ist, ein Statin zu nehmen“.

Normalerweise kommen im Vereinigten Königreich – nach im Moment gültiger Leitlinie - Menschen mit einem Risiko von 10 Prozent oder mehr, in den nächsten 10 Jahren einen Herzinfarkt zu erleiden, für diese Medikamente in Frage.

In einem vom National Institute for Health and Care Excellence (NICE) vorgeschlagenen neuen Leitlinienentwurf heißt es jedoch, dass Ärzt:innen Statine allen Personen über 18 Jahren verschreiben können, auch wenn ihr Risiko für eine Herzerkrankung unter die 10 %-Schwelle fällt. Darauf machte die bekannte australische Medizinjournalistin und Wissenschaftlerin Maryanne Demasi kürzlich in ihrem Blog aufmerksam. Der Leitlinienentwurf befindet sich derzeit noch in der Beratung und wird voraussichtlich am 17. Mai 2023 endgültig veröffentlicht.

Wie kam es zu der Änderung?

Berichten zufolge ist dies eine Reaktion auf die Ankündigung der British Heart Foundation, dass es seit der Covid-Pandemie mehr als 30.000 Todesfälle durch Herzinfarkte und Schlaganfälle gegeben hat. Der leitende Mediziner der Britischen Regierung (Chief Medical Officer), Sir Chris Whitty, erklärte, es gebe "kaum Zweifel" daran, dass die geringere Einnahme von Statinen oder Blutdrucktabletten dazu beigetragen habe, die übermäßige Zahl der Todesfälle durch Herzkrankheiten während der Pandemie zu erklären.

Tom Jefferson ein bekannter Epidemiologe und Autor verschiedener Übersichtsarbeiten wies jedoch darauf hin, dass es keine „Beweise dafür gibt, dass in den letzten drei Jahren weniger lipidregulierende und blutdrucksenkende Medikamente verschrieben wurden, wenn man die Daten des NHS zugrunde legt.“ Wenn der Entwurf der Leitlinien fertiggestellt wird, bedeutet dies, dass Millionen von gesunden Menschen über Nacht zu „Patienten" werden, nur weil das NICE die Schwelle für die Verschreibung von Statinen gesenkt hat. Führende Ärzte haben sich dagegen ausgesprochen, gesunden Menschen mit geringem Risiko für eine Herzerkrankung Statine zu verschreiben, da der Nutzen die Nachteile wahrscheinlich nicht überwiegt. Die Hälfte der Menschen bricht die Einnahme von Statinen innerhalb eines Jahres nach Beginn ab - 62 Prozent geben an, dass dies auf Muskelschmerzen zurückzuführen ist, die oft ihre körperliche Aktivität und ihre Fähigkeit, Sport zu treiben, einschränken (eine Vorbeugung gegen Herzkrankheiten).

Das NICE ist jedoch nicht der Meinung, dass Statine einen hohen Prozentsatz von Muskelproblemen verursachen, und beruft sich auf eine große, im Lancet veröffentlichte Studie, die zeigt, dass die Häufigkeit von Muskelschmerzen bei Statin-Benutzern im Wesentlichen die gleiche ist wie bei Personen, die ein Placebo erhalten. Die Studie weist jedoch schwerwiegende Mängel auf, da die Mehrheit (78Prozent) der analysierten Statin-Studien die Teilnehmer entweder nicht speziell zu Muskelproblemen während der Studie befragt hat oder die Daten nicht bekannt waren. Peter Doshi, außerordentlicher Professor an der University of Maryland School of Pharmacy, sagte: „Eine unzureichende Datenerfassung kann die Ergebnisse unklar oder bedeutungslos machen."

Hoher Cholesterinspiegel bei Herzkrankheiten?

Das NICE hat auch erklärt, dass ein hoher Cholesterinspiegel ein „signifikanter Risikofaktor" für Herzkrankheiten ist, aber dies ignoriert eine Fülle von Beweisen für das Gegenteil. Demasi und Kolleg:innen haben vor kurzem in JAMA Internal Medicine eine systematische Übersichtsarbeit und Metaanalyse veröffentlicht, die keinen konsistenten Zusammenhang zwischen Herzerkrankungen und der Senkung des LDL-Cholesterins durch Statine nachweist. LDL-Cholesterin ist lediglich ein Surrogatmarker und seine ursächliche Rolle bei der Entstehung von Herzerkrankungen wird von renommierten Kardiologen und Forschern immer wieder in Frage gestellt. 

Im Jahr 2018 wurde in der Fachzeitschrift Expert Review of Clinical Pharmacology ein umfassender Überblick über die Literatur veröffentlicht, aus dem hervorging, dass es keinen Zusammenhang zwischen LDL-Cholesterin und Herzerkrankungen gibt. Die Autoren dieser Übersichtsarbeit schrieben, dass die „Cholesterin-Theorie" all die Jahre am Leben erhalten wurde, „von Personen, die die Ergebnisse von Studien mit negativen Resultaten ignoriert und [die] irreführende Statistiken verwendet haben."

Dies ist nicht das erste Mal, dass das NICE in die Kritik gerät. Im Jahr 2014 gab es einen Aufschrei, als die Behörde den Schwellenwert für das Zehn-Jahres-Risiko von 20 Prozent auf 10 Prozent senkte, wodurch 4,5 Millionen Menschen zusätzlich für eine Statinbehandlung in Frage kamen. Obwohl behauptet wurde, dass dadurch jedes Jahr bis zu 28.000 Herzinfarkte und 16.000 Schlaganfälle verhindert werden könnten, hatte dies im Nachhinein praktisch keinen Nutzen. Die britische Journalistin Lucy Johnson veröffentlichte eine brisante Untersuchung, aus der hervorging, dass 8 von 12 Ausschussmitgliedern finanzielle Verbindungen zu Unternehmen hatten, die Statine oder Cholesterinsenker der nächsten Generation herstellen.

Ein Déjà-vu?

Wer die turbulente Geschichte von Maryanne Demasi als Fernsehmoderatorin bei der Australian Broadcasting Corporation (ABC TV) kennt, dem wird der Vorstoß, Statine praktisch „jedem" zu verschreiben, bekannt vorkommen. Bereits im Jahr 2013 produzierte Maryanne Demasi einen Dokumentarfilm für ABC TV, der die übermäßige Verschreibung der Medikamente in Frage stellte. Sie wies darauf hin, dass Fettsenker zunächst für Menschen mit einem hohen Herzinfarktrisiko gedacht waren. Im Laufe der Jahre wurden die Zulassungskriterien in den Leitlinien jedoch nach und nach auf neue Bevölkerungsgruppen ausgeweitet.

Einige Ärzt:innen schlugen sogar vor, Statine als Würzmittel in Burgerläden auszugeben, um die schädlichen Auswirkungen von Fast Food zu „neutralisieren". Andere hielten es für eine gute Idee, Statine in die Wasserversorgung zu geben. Nach der Ausstrahlung des Dokumentarfilms war die Empörung der Statinhersteller und der Industriegruppen so groß, dass ABC dem Druck nachgab und die Sendungen zensierte, einschließlich einer Website mit ausführlichen Interviews und wissenschaftlichen Abhandlungen, auf die vollständig verwiesen wurde.

In der Bewertung dieser Vorgänge kommt Demasi zu dem Schluss: „Wenn ich mir jetzt anschaue, wie sich die Pandemie entwickelt hat, kommt es mir wie ein Déjà-vu vor. Journalist:innen und Wissenschaftler:innen werden immer noch von Interessengruppen zensiert, Arzneimittelhersteller nehmen weiterhin Einfluss auf medizinische Leitlinien, und profitable Medikamente stehen im Vordergrund der Gesundheitspolitik.“

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